Kaffeekränzchen

Es klingelt an der Tür. Alle zucken zusammen. Die Katze flitzt wie ein Blitz ins Schlafzimmer unter das Bett. Sie weiß, wer gleich erscheint.

Einmal im Monat kommt Tante Hermine zu uns zum Kaffeetrinken. Davon kann sie kein Schneesturm, kein Wolkenbruch, keine Hitzewelle und schon gar nicht ein Lockdown abhalten. Meine Mutter hat wie immer den ganzen Vormittag mit Putzen und Backen zu gebracht. Selbst ich muss wenigsten einmal im Monat mein Zimmer aufräumen, Staubwischen und den Teppich absaugen.

Mama ruft aus der Küche: „Matthias, vergiss bloß nicht, deine Schmutzwäsche in den Korb zu stecken.“ Ich verdrehe die Augen, murmele „Ja,Ja.“ Und denke, als ob die blöde Kuh im Abstellraum meine Schmutzwäsche kontrollieren würde.

Tante Hermine ist schon immer pingelig gewesen, aber seit dem der Virus uns fest im Griff hat, dreht sie völlig am Rad. Obwohl alle Räume bereits Corona konform desinfiziert wurden und wir alle seit 10 Uhr morgens mit Mundschutz in der Wohnung rumlaufen, wird Tante Hermine, bevor sie sich an den Tisch setzt, alle relevanten Flächen mit ihren mitgebrachten Desinfektionstüchern sterilisieren. „Sicher ist sicher!“, sagt sie und reißt zusätzlich alle Fenster auf.

Dieses Wochenende jährt sich der verschärfte Kaffeeklatsch. Die Nerven liegen inzwischen blank. Am Anfang fanden wir es noch lustig, wenn sie vor dem Essen die Kuchengabel desinfizierte oder das Sitzkissen in der Mikrowelle 5 Minuten garen musste.

Vater öffnet die Wohnungstür.

Sie rauscht mit einem „Hallöchen!“ gleich durch ins Bad, Händewaschen. Ich versuche wie immer verzweifelt: „Darf ich…“ „Nein!“, unterbricht mich meine Mutter. „Mach bitte die Schlagsahne und vergiss nicht, die Maske über die Nase zu ziehen. Tante Hermine sieht alles!“

Widerwillig schlurfe ich in die Küche, wo es wie in einem Großlager für Desinfektionsmittel riecht.

Der Kaffee blubbert durch die Filtertüte. Wie ich diesen Filterkaffee hasse, Erdöl ist sicherlich schmackhafter. Wenigsten kämpft nun der Kaffeeduft gegen den Desinfektionsduft an. Ein Vorteil hat aber die Pandemie, ich bekomme jetzt kein Begrüßungsschmatzer mehr. Ich grinse vergnügt vor mich hin.

Inzwischen sitzt Tante Hermine am frisch desinfizierten Tisch und regt sich über die Zustände im Bus auf. Taxi fahren kommt nicht infrage, dafür ist sie zu geizig. Stolz erzählt sie, wie sie die leeren Sitzreihen vor, hinter und neben sich gegen den Pöbel verteidigt hat, obwohl der Bus am Samstagnachmittag brechend voll war.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie Tante Hermine mit dem Krückstock die verschreckten Menschen in Schach hält. Widerstand zwecklos!

Der Kaffee wird eingeschenkt, der Kuchen mit dem silbernen Tortenheber verteilt. Vater steht noch einmal auf. Er hat das Mineralwasser vergessen.

Tante Hermine zieht nun ein weiteres Desinfektionstuch aus der sterilen Verpackung und beginnt hektisch die Fläche vor sich wiederholt zu reinigen. Der strenge Geruch der Desinfektionslösung verdrängt nun endgültig den Hauch von frisch gebrühtem Bohnenkaffee und warmen Apfelkuchen.

Danach wischt sie zwischen unseren Tellern hin und her. Mutti hat die Kuchengabel hoch aufgerichtet in der Hand. Sie starrt die Tante an, als ob sie es noch immer nicht glauben kann, was sie gerade sah.

Die glänzend weiße Vase aus Meissner Porzellan mit den gelben und roten Tulpen schwankt gefährlich, als der Unterarm von Hermine das Grün streift.

Plötzlich aus dem Ellenbogengelenk heraus, wie wenn man eine lästige Fliege verscheuchen will, fliegt Mamas Arm zur rechten Seite. Und die Kuchengabel dringt mit einem schmatzenden Geräusch bis zum Anschlag in Tante Hermines linkes Auge ein. Ihre Wischbewegungen erstarrten in derselben Sekunde. Das rechte Auge klotzt auf das silberne Gabelende in der linken Gesichtshälfte. Der Oberkörper knallt ungebremst auf die Tischplatte. Die Blumenvase fällt um. Das Wasser vermischt sich mit dem hellroten Blut, welches aus der Augenhöhle strömt. Die Flüssigkeit schwappt über die Tischkante.

In diesem Moment tritt Vater vom Kühlschrank zurück an den Tisch. Die Flasche kaltes Mineralwasser entgleitet seiner Hand, zerschellt auf den Bodenfliesen.

Mutti erwacht aus ihrer Starre. Langsam dreht sie den Kopf zur Seite, betrachtet die tausend kleinen Glassplitter in der Lache auf dem Boden. Schüttelt vorwurfsvoll ihr Haupt: „Was für eine Schweinerei!“

März 2021

Titelbild: Photo by Lina Volkmann on Unsplash

© 2021 Ingo M. Ebert
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