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Beerdigung (Textauszug aus dem Buch)

Josef steht am offenen Grab seiner lieben Freundin und schaut auf ihren Sarg hinunter. Das Loch sieht so gruselig, dunkel und unnahbar aus. Es ist nur ihr Körper, der da unten verrotten wird, sagt er sich und lässt bedächtig Erde auf das Rosenbukett hinunterrieseln. Ein kalter Schauer lässt ihn erzittern, unwillkürlich zieht er die Schultern hoch, während er den Kragen des Mantels hochschlägt. Eilends drückt er die Schaufel dem Nächsten in die Hand und zieht sich in den Schatten einer alten Eiche zurück, ein wenig abseits von der Menschenansammlung. Mit schwerem Herzen schaut er zu Maria, Thomas und Susanne, die von all den Leuten, die Käthe kannten, Beileidsbekundungen entgegennehmen. Er schluckte gegen seine Trauer an. Erst die Eltern, dann die einzige Bezugsperson.  Selbst, wenn sie inzwischen erwachsen sind, wird das eine weitere Narbe in ihren Herzen hinterlassen. Ob die drei an eine höhere Macht und ein Weiterleben nach dem Tod glauben? Er schüttelt kaum merklich seinen Kopf. Wahrscheinlich nicht, selbst er glaubt nicht einmal an das Schicksal.

Im letzten Krieg in Sonthofen geboren, musste er sehr früh lernen: Vertraue nur dir und deiner eigenen Kraft. Es waren harte Zeiten mit vier Geschwistern und ohne Vater. Als Zweitältester war er für die Familie verantwortlich, da sein Bruder schnellstmöglich mit der wohlhabenden Käthe verheiratet wurde. Alle sind sie durchgekommen! Nur sein Herz trägt seitdem eine tiefe Narbe. Seine Gedanken schweifen ab in die Zeit, als er in einem Urlaub mit Käthe heimlich Zeit an der Ostsee verbracht hatte.

Die Wellen klatschten schwach an den langen Sandstrand. Es war Hochsommer, der Himmel wolkenlos, den Tag über hatten sie gebadet, viel geredet und am Strand nach den schönsten Muscheln gesucht. Nun glomm die Sonne bereits orangefarben und es kühlte merklich ab. Er fröstelte, zog die Decke über seine und ihre nackten Füße und war froh, den grünen Wollpullover an zu haben, den ihm Käthe gestrickt hatte. Ein Geschenk zum Nikolaus. Gott, wie lange war das her. 

Josefs Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Du alter, sentimentaler Mann, schimpft er stumm mit sich. Er trauert schon viel zu lange um seine liebste Käthe. Warum hast du mich nur hier zurückgelassen? Aber war er denn wirklich allein? Vielleicht schaut sie von oben auf ihn herab? Sie ist auf jeden Fall im Himmel gelandet, die Gute. Schnell verlässt er den Friedhof, bevor er vor der versammelten Mannschaft in Tränen ausbricht.

Auf seinem Tisch zuhause liegt ein altes Buch aus Pergament. Blass, braunfleckig, beide Deckel leicht aufgewölbt, die Seiten mit blauen Lettern versehen. Die altdeutsche Schrift kann heutzutage keiner mehr lesen. Das Buch, der Pullover und ein paar schwarz-weiße Fotos sind alles, was ihm von ihr geblieben ist. „Meine liebste Käthe …“, lässt er den Satz unvollendet. 

Foto: Photo by Joachim Schnürle on Unsplash

Am Strand von Travemünde hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Bildhübsch, jung, mit langen blonden Haaren, sonnengebräunter Haut und mit einem enganliegenden weißen Kleid, saß sie auf einem großen Handtuch und war in dieses Buch vertieft. Die lärmenden Urlauber um sich herum schien sie nicht wahrzunehmen. Er setzte sich neben sie, nicht zu nah, um aufdringlich zu wirken, aber auch nicht zu weit weg, um die Möglichkeit zu haben, sie anzusprechen.

Und das wollte er unbedingt! Eine gefühlte Ewigkeit saß er starr und beobachtete aus den Augenwinkeln, ob sich eine Gelegenheit ergab. Kurz bevor die Sonne im Wasser versank, schaute sie hoch und betrachtete verwundert die wuselnden Urlauber um sie herum. Ihre Blicke trafen sich. Jetzt oder nie, sagte er zu sich.

„Was ist das für ein interessantes Buch, das Sie so in den Bann zieht?“, fragte er.

Ihre Augen blieben an ihm hängen. Mit einer Hand schirmte sie die Augen ab und musterte ihn ein paar Sekunden lang. Klappte dann langsam das Buch zu, strich ein paar Sandkörner vom Einband und drehte sich leicht in seine Richtung.  

„Das sind alte deutsche Legenden geschrieben von Richard Benz, die limitierte Vorzugsausgabe von 1910.“

Dabei lächelte sie beinahe kühl, mit der Gewissheit, dass er davon nie etwas gehört hat.

Josef schluckte und suchte krampfhaft nach einer Antwort, die nicht allzu lachhaft klang.

„Sind da drin auch die Bamberger Legenden und Sagen enthalten?“, fragte er und freute sich, doch eine brauchbare Erwiderung gefunden zu haben. 

Jetzt lächelte sie freundlich über das ganze Gesicht.

Innerlich sprang sein Herz einen Salto. „Ich liebe auch Märchen und Sagen“, fügte er schnell hinzu. 

„Aha, also ein Märchenprinz!“, kicherte sie.

„Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen hier wieder treffen und unsere Bücher tauschen?“

„Gern, was für eine wunderbare Idee!“ Sie stand auf, schüttelte den Sand aus ihrem Kleid, nahm das Handtuch, winkte ihm zum Abschied und lief leichtfüßig, ohne sich umzudrehen, in Richtung Dünen. 

Am nächsten Tag hatte er ein passables Märchenbuch in seinem Regal gefunden und es mit ihr getauscht.

Titelbild: Buchcover von Mia Lena und Sina Land

GAMBIO – Der perfekte Tausch (@projekt.gambio) • Instagram-Fotos und -Videos

Buch:

GAMBIO – Der perfekte Tausch – sina-lands Webseite! (jimdofree.com)

© 2022 Ingo M. Ebert – vom Team Gambio – Herausgeberin Sina Land
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autoren wiedergegeben werden.

nach einem MDR-Video

Anfang der Neunzigerjahre geschahen gleich mehrere Wunder in der kleinen und schönsten Stadt Deutschlands. Diesen Titel hat Stolberg zwar erst 2019 verliehen bekommen. Aber der Grundstein dafür wurde unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1990 gelegt. Das Schloss und die Stadt mit den denkmalgeschützten Fachwerkhäusern hatten in den vierzig Jahren Sozialismus mehr gelitten als in den vielen Kriegen davor. Der Luftkurort, tief zwischen den Bergen gelegen, hatte besonders im Winter mit den hunderten Kohleöfen das Atmen unmöglich gemacht. Zusätzlich ließ der Smog die ohnehin wenige Sonne nie ins Tal scheinen. Die Stadt lag schwer atmend im Sterben.

Wie YOUTUBE mein Leben rettete

26. Oktober 2022
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…oder eine größere Katastrophe verhinderte

Ich bin jetzt über fünfzig Jahre alt und bilde mir ein, keine riskanten oder unvernünftigen Sachen mehr zu tun. Dank Youtube-, Instagram- und Facebook-Videos weiß ich auch, Nichts ist so blöd, um nicht später als Clip im Netz für Freude zu sorgen oder vor Nachahmung abzuschrecken.

So werde ich zum Beispiel, nie mit einem Rüttler in der Hand versuchen ein Bier zu trinken oder mit einem Gasbrenner die Hecke vor dem Haus zu stutzen.

Unter dem Motto:

Du weißt es und doch machst du es

Es war eines dieser typischen Ferienwochenenden im Mai 2021 und wir machten das, was gefühlt alle machten. Ab auf die Autobahn in Richtung Ostsee. Auch wenn das nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung wirklich gilt, aber die Nummernschilder aus unserer Region waren zahlreich auf dem Highway zum Wasser vertreten. Also bleiben wir dabei, dass es alle machten, wieso sonst sollten sich die Autos auf der Autobahn stauen.

Endlich Sonntag

18. Mai 2022
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Endlich Sonntag

Dein betörender Duft verzaubert mich. Selbst mit geschlossenen Augen erkenne ich dich. Mir wird schlagartig klar, heute ist endlich Sonntag.

Viel zu lange musste ich auf dich warten, die Woche ist unendlich lang gewesen. Doch heute ist es so weit! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich an den leicht salzigen Geschmack deiner Haut denke.

Der perfekte Tausch

Levi, der Kater

Heute ist Sonntag. Ich liebe das Wochenende, da sind alle so entspannt und besonders freundlich zueinander. Meistens schlafen auch alle etwas länger als an den Wochentagen. Mir ist egal, welcher Tag heute ist, ich schlafe immer ausgiebiger als meine Freunde hier auf dem Bauernhof.

Das wird ein guter Sommertag. Ich spüre so etwas sofort. Es liegt etwas Magisches in der Luft. Die Vögel zwitschern lauter als sonst und die Sonne scheint jetzt schon grell vom fast wolkenlosen Himmel herab. Der lauwarme Wind pustet die Schirmchen vom Löwenzahn von der Weide herüber. Ich strecke mich auf meinem Heulager, gähne mit aufgerissenem Maul und blinzele zu meinem Freund Amigo hinüber. Die Schlafmütze ist heute noch nicht wach. Wahrscheinlich träumt er von unserem gestrigen Ausflug zur alten Weide.

Der Mensch im Mittelpunkt

Will jeder unter eigner Flagge segeln.

Dann ist der Spaß sehr schnell vorbei.

Nicht nur auf See gibt’s strenge Regeln

Auch in der Luft, an Land und in der fernen Mongolei.

Das macht das Leben einfach und gerecht

Und gilt für jeden ohne Ansehn der Person!

Die Intention war gar nicht schlecht,

Doch dann: Korruption – Denunziation – Inquisition!

Zehn Regeln stehn im Alten Testament!

Die frommen Juden mit dem langen Bart

Schufen sich (mit 613) ein Knebelinstrument

Und schafften reichlich Jobs dem Hohen Rat.

Jesus konnte sich nicht wirksam wehren.
Wie jeder weiß, gings übel aus!
Denn seine radikalen Lehren
Bekamen dort keinen Applaus.

„Erst kommt der Mensch, dann das Gesetzt!“

Für Pharisäer ein Eklat!

Es folgte eine gnadenlose Hetz.

Pilatus gab den Segen, am Ende gings nach Golgatha.

Karriere hat er trotzdem noch gemacht!

In Rom ist er bis auf den Tag präsent.

Ihm selber hat es nichts gebracht

Uns aber zweitausend Jahre Massenevent.

Das ist ja lange her! Da sind wir heute weiter!

Jesus bleibt zwar Außenseiter

Doch wird aus aller Welt gefunkt:

Der Mensch steht mehr und mehr im Mittelpunkt.

November 2021

Titelbild: Foto Ingo Ebert (privat)

© 2022 Marianne Schneider, Osnabrück
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

PFAUENFEDER

Ich habe Höhenangst, ich habe Angst in zu engen Räumen, ich habe Angst in dunklen Fahrstühlen, in großen Menschenansammlungen, in langen Tunneln – besonders wenn man dabei in einem Stau steht. Ich habe Angst, wenn ich in dicker Kleidung, und damit meine ich einen viel zu langen Schal, den ich mir viermal um den Hals gelegt habe, Handschuhe aus Polyester, wadenhohe Boots mit Innenfutter sowie eine kratzige Wollmütze, über die ich noch die Kapuze meines olivgrünen Parkas gestülpt habe, durch eine Drehtür eines Kaufhauses trete und mir die heiße Föhnluft entgegenströmt. Ich habe dann das Gefühl, dass ich nicht atmen kann, ich schwitze und bekomme Panik. Mir wird noch heißer und ich schnappe nach Luft – ein Kreislauf, ein ewiger Kreislauf der Angst. Ich könnte niemals Astronaut sein und in einer kleinen Kapsel zum Mond fliegen. Ich könnte niemals in einem Raumanzug schwerelos durch den Weltraum schweben, wenn zum Beispiel eine Reparatur an der Außenhülle vorgenommen werden müsste. Denn dann würden sie alle zusammentreffen: die Höhenangst, die Angst vor zu engen Räumen, die Angst vor zu dicker Kleidung, die Angst vor dem Verlust von Sauerstoff. Ich meine, höher geht es ja wohl kaum, dick eingepackter auch nicht und meine Fähigkeit zu atmen hinge einzig und allein von einer Sauerstoffflasche ab. Im Kaufhaus kann ich mir wenigstens die Klamotten vom Leib reißen und hinausrennen. Aber im Weltall bin ich den Bedingungen ausgeliefert. Lediglich die Menschenansammlungen, die würde ich da oben wohl nicht finden. Wie verlockend. Und dennoch, oder vielleicht gerade wegen dieser Universumsangst, schaue ich jeden Astronautenfilm, jede Serie, jede Dokumentation über das Weltall. In meinem Zimmer hängen Poster von Juri Gagarin, Jack Glenn, Alexej Leonow, Harrison Smitt und Sergej Krikaljow. Mich fasziniert der Gedanke, dass Astronauten sich den extremen Bedingungen hingeben, sie ihre Familien zurücklassen und freiwillig auf Pizza verzichten! Ich meine, Pizza ist doch wohl mit Abstand das beste Gericht auf diesem Planeten! Was es wohl auf den anderen Planeten zu essen gibt? Solange ich mich erinnern kann, träume ich von den Sternen.

Unerwarteter Besuch

Auch an jenem Tag, an dem zum ersten Mal etwas wirklich Ungewöhnliches in meinem Leben passiert ist: »Sie werden Astronaut, herzlichen Glückwunsch«, sagte der Mann, der vor unserer Wohnungstür stand. Er trug eine indigoblaue Uniform mit eckigen Schulterpolstern. Auf der Höhe seiner linken Brust steckte ein goldenes Abzeichen in Form einer Pfauenfeder und unter seinem rechten Arm klemmte eine schwarze Mappe, auf der ebenfalls so eine Feder abgebildet war. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?«, bat ich und starrte auf das Abzeichen. Augenblicklich kam mir der Traum in den Sinn, der mich dreimal hintereinander im Schlaf aufgesucht hatte: Ich schwebe im Weltraum, um mich herum ist nichts außer tiefschwarze Dunkelheit. Ich trage keinen Astronautenanzug und frage mich: Wie kann ich atmen? Bin ich tot? Panisch schnappe ich nach Luft, doch Atmen ist zum Glück kein Problem. Ich schaue an meinen Körper hinab, der hell leuchtet und im starken Kontrast zu der Schwärze um mich herum steht. Ich sehe mich um, dabei drehe ich mich langsam um die eigene Achse. Es ist weit und breit keine Lichtquelle zu sehen. Ich kann also eigentlich gar nicht leuchten, denke ich. Auf einmal fliegt ein Elefant an mir vorbei, ein echter Elefant! Dann eine Giraffe, ein Nashorn und eine grüne Mamba. Ich erkenne sie aus Kikis Bildband von Afrika wieder. Sie liebt dieses Buch und blättert immer wieder darin herum, auch wenn sie es nie zugeben würde. Es erinnert sie an unsere Kindheit, als wir gemeinsam mit unseren Eltern in Afrika waren, bevor sie gestorben sind. Kiki war damals vier und ich fast sechs Jahre alt. Die Tiere schauen mich an, als wollten sie mit mir sprechen: Wie kommen wir hierher? Ich möchte ihnen antworten, doch mein Mund lässt sich nicht öffnen. Er ist wie zugeklebt, als hätte ihn jemand betäubt oder zu Eis erstarren lassen. Die afrikanischen Tiere schweben weiter, ohne dass ich mit ihnen sprechen kann. Wohin sie fliegen, das weiß ich nicht. Und während sie immer kleiner und kleiner werden, erscheint ein neuer heller Punkt im schwarzen Nichts. Gebannt starre ich ihn an. Er bewegt sich langsam auf mich zu. Schließlich kann ich erkennen, was es ist: eine golden leuchtende Pfauenfeder. Dieser Traum kam mir in den Sinn, als der adrett gekleidete Mann mit den Zwirbeln im Schnauzbart vor unserer Haustüre stand. Ich dachte an das schwarze Nichts, in dem ich drei Mal im Schlaf schwerelos gewesen war, ich dachte an die afrikanischen Tiere und besonders dachte ich an die goldene Pfauenfeder. Ich starre immer noch darauf, als der Mann jene Worte wiederholte, die mein Leben verändern sollten: »Sie werden Astronaut und ich bin hier, um Sie abzuholen.« Sein markantes Gesicht mit den silbernen borstigen Brauen, den dunkelblauen Augen und dem gepflegten Schnauzbart mit Zwirbeln verschwamm vor meinen Augen. Ich stützte mich am Türrahmen ab. »Sie sind für unsere Akademie auserwählt worden«, fuhr er fort, als ginge es um einen kleinen sportlichen Wettkampf beim alljährlichen Schützenfest. »Sie dürfen die nötigsten Sachen packen – ich denke, dazu gehört eine Zahnbürste, Zahnpasta, Waschcreme, Handtücher und ein paar anständige Hemden – und dann geht es los. Und bitte ziehen Sie sich doch rasch jetzt schon ein sauberes Hemd über. Es gehört sich nicht für einen angehenden Astronauten, so herumzulaufen …« Mir wurde abwechselnd kalt, warm, kalt und noch einmal warm. Träumte ich etwa noch? Das konnte doch unmöglich die Realität sein, dachte ich. Es war sicherlich einer dieser Träume, in denen man merkt, dass man träumt, aber man schafft es nicht, wach zu werden. Bis eben hatte ich doch noch in meinem Bett gelegen, das erste Frühstück schon hinter mir – Ufo-Schockoflakes –, gefolgt von einem ausgiebigen Vormittagsschläfchen, das ich immer gegen zehn Uhr halte.

Das zweite Frühstück hatte ich auch schon, das mache ich für gewöhnlich gegen elf Uhr. Dann geht es etwas deftiger zu, ich brate mir vier Eier mit Speck und einer ordentlichen Prise Salz. Kiki sagt immer: »Das ist widerlich«. Meine Schwester isst am liebsten Schwarzbrot mit Avocado, aber auch nur hauchdünn bestrichen und natürlich, natürlich ohne Salz. Höchstens ein bisschen Kräutersalz. Nach dem zweiten Frühstück hatte ich im Wohnzimmer ein bisschen ferngesehen und mich erst am Nachmittag für ein weiteres Schläfchenin mein Zimmer zurückgezogen. Weil es so heiß war, schlief ich ohne Oberteil, ich trug nur eine weite Jeansshorts, deren oberer Knopf geöffnet war, denn mein Nachmittagssnack, eine Pizza mit scharfen Jalapeños der Marke Flying Captain – die ist einfach die beste, doch leider macht sie einen auch sehr schläfrig – lag mir schwer im Magen. Die Fenster waren geschlossen, damit der Lärm der Großstadt draußen auf der Straße blieb. Auch die Abgase wollte ich nicht hereinlassen, die im Sommer, wenn der Wind schlecht steht, immer nach oben getragen werden, sodass es einem vorkommt, als lebte man in einer Tiefgarage. Der Teller mit den Pizzaresten lag neben mir auf dem Bett. Immer wenn ich ausatmete, klirrte das stumpfe Messer auf dem Keramiktellerrand. Ich schnarchte, aber nur ganz leise. Das alles weiß ich, weil Kiki mich genau so vorgefunden hat und es mir später erzählte.

Jack Bones

»Jack! Da steht so ein komischer Typ vor der Tür und möchte dich sprechen. JACK!«, hatte sie mich unsanft aus dem Schlaf gerissen. »Steh mal auf. Das ist doch bestimmt einer deiner Nerds, der mit dir über Aliens reden möchte.« Sie kicherte. »Vielleicht ist er aber auch vom Amt. Jetzt ist es so weit, Jack, jetzt kommen sie uns holen!« »Hä? Was is’n los?«, hatte ich gemurmelt, das schattenhafte Gesicht von Kiki schlaftrunken betrachtet und war ohne weiter nachzudenken zur Tür getaumelt. Mein Puls hatte sich binnen Sekunden verdoppelt. Ich hatte mir mit dem Handrücken die Speichelspur aus dem Mundwinkel gewischt, dann die Haustür geöffnet und diesen »komischen Typen« vor unserer Tür vorgefunden. »Herr Bones?«, sagte der Mann mit dem goldenen Pfauenfederabzeichen. »Ja …?«, antwortete ich. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich schon seit mindestens zwei Minuten nichts mehr gesagt hatte.  »Ich bin etwas überrascht, dass Sie nicht vorbereitet sind. Sie haben doch den Brief erhalten …?«, meinte er.  »Den – den Brief?«, wiederholte ich unsicher. Hatte Kiki etwa recht? War dieser Mann in Wirklichkeit vom Amt? Hatten sie herausgefunden, dass Kiki und ich seit knapp zwei Jahren alleine wohnten, ohne Erziehungsberechtigte, ohne unsere ältere Schwester, die eigentlich für uns verantwortlich war? Der Mann runzelte die Stirn. »Sie sind doch Jack Bones, Sohn von Amira und Tom Lennard Bones?«, hakte er nach, öffnete die schwarze Mappe und blickte auf eine lange Liste mit Namen. »Ja«, bestätigte ich zögerlich. »Nun, wenn Sie Jack Bones sind«, grummelte er und schloss die Mappe mit einem lauten Knall, »dann bin ich hier, um Sie abzuholen.« Ich schluckte schwer. Kiki hatte ins Schwarze getroffen, jetzt war es vorbei, jetzt sammelten sie uns ein und brachten uns ins nächste Waisenhaus. Oder träumte ich etwa immer noch? Ich blickte an mir herab, suchte hoffnungsvoll nach einem Indiz, das für einen Traum spräche, betrachtete meine nackten Füße, von denen der linke ein bisschen größer war als der rechte – das war aber vollkommen normal –, ich sah die haarigen dünnen Beine, die so fürchterlich wackelig dastanden, musterte die dunkelblaue Jeansshorts und blieb an dem offenen Knopf meiner Hose hängen. Ach ja, dachte ich, die Pizza.

Nervös huschte mein Blick zu dem Mann in der Tür, der etwas die Nase zu rümpfen schien. Schielte er etwa gerade auf meine Planeten-Boxershorts, die ein ganzes Stück weit herausguckte? Ich zwickte mir vorsichtshalber in den Bauchspeck, den ich die letzten Jahre mit Stolz angesetzt hatte, meine Wangen leuchteten rot auf – ich musste feststellen, dass dies kein Traum war. Der Mann mit den Zwirbeln im Schnauzbart zog eine seiner silbernen borstigen Augenbrauen hoch und sah mich an, als hätte ich die geistigen Fähigkeiten einer Schildkröte. »Ich würde gerne eintreten«, sagte er fordernd und auch ein wenig ungeduldig. Er sah mich erwartungsvoll an, wartete darauf, dass ich den Weg freimachte. Ich überlegte noch, die Tür einfach vor seiner Nase zuzuknallen, trat dann aber doch beiseite und deutete auf die Wohnzimmertür. Es hatte ja doch keinen Sinn. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Kiki uns durch einen Spalt ihrer Zimmertür beobachtete, und als sie bemerkte, dass ich sie bemerkt hatte, zog sie eine Grimasse und ließ die Tür demonstrativ ins Schloss fallen. Im Wohnzimmer sah es aus wie immer. Es lag alles Mögliche herum: alte Bücher von Flohmärkten und aus Kindertagen, Donald Duck Comics, die Teeniezeitschriften von Kiki und meine »nerdigen Alienhefte«, wie sie immer sagte, ausgetrocknete Kulis, angefangene Kreuzworträtsel, unvollständige Kartenspiele, leere PET-Flaschen mit kaputten Deckeln und zerfleddertem Etikett, Kinokarten, die Kiki und ich eigentlich an die Wand pinnen wollten, es aber doch nie taten, Kapuzenpullover und T-Shirts mit Tomatenflecken und bauchfreie Jeansjacken.

Der Mann in der Uniform zog seine rechte Augenbraue bei dem Anblick unseres Wohnzimmers so hoch, dass sie fast unter seinem Haaransatz verschwand. Ich meinte, ein leises »Tz« von ihm zu vernehmen. Als könnte ich die Situation damit etwas besser machen, schloss ich nun endlich den oberen Knopf meiner Hose und zog mir eines der T-Shirts mit einem besonders großen Tomatenfleck über. Gleichzeitig schob ich ein paar Klamotten, Spiele und Zeitschriften auf dem Sofa beiseite, damit der fremde Mann sich hinsetzen konnte. Doch dieser bevorzugte es scheinbar zu stehen. Nun räusperte er sich, während ich mich stöhnend auf der alten Ledercouch niederließ. Lecker, da liegt ja noch ein Stück von gestern, dachte ich, als ich den Teller mit der Salamipizza auf dem Boden neben der Couch entdeckte. Doch ich hielt mich zurück. Es war unhöflich, Gästen etwas vorzukauen. Erwartungsvoll wandte ich nun den Blick meinem Gast zu. »Wie ich Ihnen schon mitteilte«, begann dieser, »möchten wir Sie auf unsere Akademie aufnehmen und –« »Sie sind nicht vom Amt?«, unterbrach ich ihn. »Vom Amt?« Der Mann runzelte die Stirn. »Nein, ich bin von der Pfauenakademie Hamburg und –« »Der Pfauenakademie?«, fiel ich dem Mann abermals ins Wort und erntete sogleich einen strengen Blick, der mir klarmachte, dass solche Unterbrechungen von ihm für gewöhnlich nicht geduldet wurden.

Foto: Cover von Lea Funke

Die Pfauenakademie

»Ganz recht«, sagte er und sog scharf die Luft ein, »die Pfauenakademie. Sie ist eine von fünf Astronautenakademien in Deutschland, die sich der Ausbildung von Jungtalenten wie Ihnen …«, die letzten drei Worte schienen ihm deutlich schwerer über die Lippen zu kommen als die anderen, »… widmen. Es ist eine Ehre, auserwählt zu sein.« Der Mann sah mich an, als erwartete er, dass ich zu jubeln begänne und mir Tränen in die Augen stiegen. Doch ich starrte einfach nur zurück und kratzte mich an meinem kaum sichtbaren Zehntagebart. »Das ist ein Scherz, oder?«, fragte ich nervös und lachte kurz auf. Der Mann blähte sich auf wie ein Heidelbeermuffin, den man mit der doppelten Menge Backpulver angerührt hatte: »Selbstverständlich nicht! Wollen Sie etwa andeuten, dass ich, Timmothy von Bergen-Bergewig-Leuter, hier meine Zeit verschwende, um einfältigen Jungen, wie Sie es sind, einen – einen Streich zu spielen?!« »Ähh«, stammelte ich. Der Heidelbeermuffin drohte zu explodieren. Er gab ein Pfeifen von sich, vibrierte und lief dunkellila an. »Sie haben keine Ahnung, wen Sie hier vor sich haben! Wenn Sie in der Akademie angekommen sind, werden Sie noch lernen, mit welchem Ton man zu sprechen hat! Nun, ich erwarte eine Antwort von Ihnen. Meine Zeit ist begrenzt und – mit Verlaub – das Klima in ihrer Wohnung ist nicht länger verkraftbar.« Ich schluckte und versuchte meine folgenden Worte bewusster zu wählen: »Entschuldigen Sie bitte, Herr …« »Herr von Bergen-Bergewig-Leuter«, zischte der Mann.. »… Herr von Bergen-Berge-Wicht-Leuten …«, sagte ich. Der Mann pfiff noch lauter, doch ich sprach einfach weiter: »Vielleicht können Sie sich ja vorstellen, wie das aus meiner Sicht klingt. Ich kenne Sie nicht, ich habe noch nie etwas von einer Astronautenakademie für Jugendliche gehört und es kommt mir ein bisschen seltsam vor, dass man so zwischen Tür und Angel darüber informiert wird.« Der Mann in der Uniform zog zum dritten Mal überrascht seine Braue hoch: »Sie wurden nicht informiert?« Ich schüttelte vehement den Kopf. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er zückte ein Taschentuch und tupfte sie vorsichtig ab. »Oh, wie ärgerlich. Der Brief müsste vor vier Wochen eingetroffen sein. Ihre Eltern hätten ihn sogar unterschreiben müssen! Sind Sie sicher, dass Sie keinen Brief erhalten haben?« Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nun … wo sind Ihre Eltern? Ich würde sie gerne sprechen«, sagte der Mann. Meine Handinnenflächen begannen zu schwitzen und ich suchte hastig nach einer passenden Ausrede. Dass meine Eltern tot waren, würde ich ihm natürlich nicht aufs Brot schmieren. Denn dann wäre die nächste Frage, wer denn unsere Erziehungsberechtigten seien. Und dies würde ihn schließlich zu unserer mittlerweile dreiundzwanzigjährigen Schwester Tammi führen, die uns vor zwei Jahren im Stich gelassen hatte. Niemand wusste das, niemand wusste, dass Kiki und ich alleine lebten. Bis jetzt.

»Meine Eltern sind … alsoooo …«, begann ich.

»Ja?«, hakte der Mann ungeduldig nach.

»Ähm, einkaufen«, log ich wenig überzeugend.

»Einkaufen, verstehe«, erwiderte er misstrauisch. »Nun, da, wie mir scheint, an irgendeiner Stelle der Informationskette ein Fehler vorliegt, bleibt mir nichts anderes übrig, als Rücksprache mit der Akademie zu halten und mich dann erneut bei Ihnen zu melden.

Und Sie sprechen bitte mit Ihren Eltern. Es ist äußerst wichtig, dass Sie sich eingehend Gedanken über diese Entscheidung machen. Ich habe hier …«, er nahm die Mappe mit dem goldenen Pfauenfederabzeichen zur Hand und zog einen Brief hervor, »ein paar Informationen für Sie, die Ihnen vielleicht hilfreich sein können. Auf anderem Weg werden Sie nichts über die Pfauenakademie oder die vier anderen Astronautenakademien finden, denn das Ganze wird ziemlich unter Verschluss gehalten, Sie verstehen?

Aber es gibt eine Webseite, auf die Sie nur mit einem Passwort Zugriff haben. Das Passwort ändert sich regelmäßig. Zurzeit lautet es ›Astrophysik101‹, wobei das ›A‹ großgeschrieben wird. Ich nehme an, Sie können es sich ohne Weiteres merken?«

Ich nickte.

»Gut«, sagte er, dann blickte er zur Wohnzimmertür. »Wie ich feststellen musste, haben Sie eine ziemlich neugierige Schwester. Ich denke, wir sind uns einig, dass Sie sie darüber in Kenntnis setzen müssen, dass sie ebenso zur Verschwiegenheit aufgefordert ist wie Sie. Selbst wenn Sie sich gegen die Akademie entscheiden, müssen Sie uns versichern, dass Sie sämtliche Informationen für sich behalten. Ein Verstoß kann schwerwiegende rechtliche Folgen haben. Aber das wird Ihnen ohnehin alles sehr ausführlich auf der Webseite erklärt.«

Er überreichte mir den Brief.

»Mein Besuch hat viel länger gedauert, als ich erwartet habe. Ziemlich ärgerlich das Ganze. Schließlich muss ich noch ein paar weitere Anwärter aufsuchen. – Sie entschuldigen mich «, sagte er, wandte sich um und schritt eilig Richtung Tür. Kurz bevor er das Wohnzimmer verließ, hielt er noch einmal inne und meinte:

»Ach, der Brief, den ich Ihnen gerade gegeben habe  …  Sie sollten sich nicht allzu viel Zeit damit lassen. Er wird sich in 24 Stunden selbst auflösen.«

Und dann verließ er die Wohnung.

November 2021

Titelbild: Foto Ingo Ebert (privat)

© 2021 Lea Funke
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Zu Besuch bei der Feuerwehr

Was bisher geschah…

Mein Name ist Levi und ich wohne in einem Haus am Rande der Stadt. Ich bin ein Kater und stolz auf meine edle Herkunft als Rassekatze. Bis auf die Besuche beim Tierarzt hatte ich das Haus noch nie verlassen. Doch plötzlich stand das Fenster weitoffen. Ich zögerte nicht lange und bin einfach rausgesprungen.

Das war der Beginn meiner abenteuerlichen Reise.
Zuerst lief ich durch einen wilden Wald. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wer da so alles wohnt. Danach kam ich zu einem Bauernhof, wo es noch viel mehr unbekannte Tiere gab. Aber alle waren sehr nett und lieb. Dort habe ich meinen neuen
Freund kennengelernt. Er heißt Amigo und ist ein kleines Pferdchen. Beim Abschied habe ich ihm versprochen zurückzukommen und ihm alles von meiner Reise zu berichten.

Bild: Schlauch von Andrea Schramek, Wien

Es wird langsam dunkel. Was war das für ein aufregender Tag. Ich bin erschöpft und hungrig. Seit dem Morgen habe ich nichts mehr gegessen. Ich entferne mich immer weiter vom Bauernhof und
nähere mich dem ziegelroten Gebäude mit dem kleinen Turm. Mein Bauch beginnt vor Hunger immer heftiger zu zwicken.
Wie gerne wäre ich jetzt daheim… plötzlich sehe ich meinen blauen Fressnapf voll mit Köstlichkeiten… mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich schlucke die Spucke runter, zack, kein Napf mehr zu sehen. Komisch. Hier draußen gibt es nichts außer Gras zu fressen.
Lustlos kaue ich auf einem Grashalm herum. Mein Freund Amigo hatte das auch gegessen. Auch wenn das Gras süßlich schmeckt, mag ich es nicht.
Fleisch, Fisch oder Käse sind die Leckereien, die mir schmecken und satt machen. Doch das Knurren meines Magens lässt zum Glück etwas nach.

Das Feuerwehrhaus

Ich gehe hungrig weiter bis zu dem Gebäude mit dem hohen Turm und den riesigen Türen. Wer hier wohl wohnt? Riesen vielleicht? „Schnickschnack, die gibt es nur in Märchen.“ Es ist niemand zu sehen.
Die Tore sind fest verschlossen, kein Spalt zum Reinschlüpfen. Ich schleiche vorsichtig um das Haus. Was ist das? Dort steht ein großer Fressnapf mit leckerem Essen. Der Duft haut mich um. Das muss das Katzenparadies sein. Oder ist das etwa wieder eine Täuschung?
Der Napf ist echt und steht an der halbgeöffneten Tür zum Turm. Ich überlege nicht lange, denn mein Bauch knurrt inzwischen fürchterlich. Ich schlinge die großen Fleischbrocken herunter. Was für ein Festessen! Die Hälfte des Napfes ist leer, als ich ein scharrendes und grollendes Geräusch höre. Ein haariges Tier, etwa so groß wie ich, kommt an der Häuserwand näher.

Oh, oh, schnell schlüpfe ich durch die Tür in den Turm und laufe die vielen Treppen bis ganz nach oben. Zum Glück folgt mir der unbekannte Vierbeiner nicht.
Nun schaue ich mich genauer um. Links von mir baumeln lange, rote Schläuche von der Decke bis fast zum Boden. Rechts von mir sind kleine
Nischen mit Schränken und Regalen. Dort liegen silberne Metallspitzen, Rohrstücke, graue Decken und allerlei unbekannte Teile. An den Wandhaken hängen dicke, schwere Mäntel zum Trocknen.
Darüber gelbe Helme. Das sind mit Sicherheit die Sachen der Bewohner dieses Hauses. Solche Kleidung habe ich zu Hause noch nicht gesehen.
Vielleicht doch Riesen? Ich lausche in die zunehmende Dunkelheit.

Nichts! Ich bin allein. Ich atme tief durch. Angst habe ich nur noch ein
bisschen. Auf einmal bin ich todmüde. Im Stehen fallen mir fast die Augen zu. Ein bequemes Plätzchen zwischen den Decken im Regal habe ich schnell gefunden. Ich schlafe erschöpft ein.

Es raschelt und wuselt in der Dunkelheit. Augenblicklich bin ich hellwach. Ohne mich zu bewegen, schaue ich konzentriert zum Treppengang.
Ich kann trotz Dunkelheit alles perfekt sehen. Da!
Ich bemerke einen wuscheligen braunen Schwanz.
Dann zwei Pfoten, die aber gleich wieder verschwinden. Die Schläuche fangen an zu wackeln.
Wer kann das sein? Am Klappern, Rascheln und Schmatzen kann ich erkennen, dass es sich um zwei Tiere handeln muss. Nun haben sie mich auch entdeckt und nähern sich mir schnüffelnd.

Die Marder Felix & Flo

Ich spanne meine Muskeln an und bin bereit zum Sprung.
„Hallo! Was machst du denn hier?“, fragt der Unbekannte mit dem hellbraunen Fell freundlich. „Wie kommst du hier rein, an dem alten Erwin vorbei?“,
fällt ihm der Zweite mit dem dunkelbraunen Pelz ins Wort. Da ein sicherer Abstand zwischen uns ist, entspanne ich mich etwas. „Wer ist Erwin? Und
wieso seid ihr dann hier?“, frage ich keck zurück.

„Erwin ist der alte Dackel, der Wachhund der Feuerwehr. Auch wenn er schon grau ist, muss man höllisch aufpassen, der versteht keinen Spaß“, antwortet der Erste. „Trotzdem sind wir Steinmarder regelmäßig zu Besuch hier“, bestätigt der Zweite.

„Wir lieben es, auf den Schläuchen herumzukauen!“, kommt es wie aus einem Mund. Die beiden Marder grinsen bis zu den Ohren. „Wir wohnen hier gleich um die Ecke. In einem verlassenen Kaninchenbau, direkt neben der Weide und der Baustelle.“

Steinmarder hatte ich bisher noch nie getroffen, sie sehen aber auch lustig
aus, mit ihrem langgestreckten, schlanken Rumpf
und kurzen Füßchen. Im Vergleich dazu ist der Schwanz ziemlich lang und buschig. „Wollen wir Freunde sein?“, frage ich, selbst erstaunt über so
viel Mut. „Warum nicht, wir sind Felix und Flo. Und wie heißt du?“ „Man nennt mich Levi, der Abenteurer!“, prahle ich ein wenig. Die beiden Marder lachen verschmitzt. „So, so, Levi der Abenteurer!“, wiederholen sie gemeinsam. „Schön dich kennenzulernen.“

Bild:Kater Levi & die Marder Felix und Flo von Andrea Schramek, Wien

Die Marder erzählen von ihrem Abenteuer mit dem Bagger auf der Baustelle. „Ich war in einem richtigen Wald und auf einem Bauernhof“, beschreibe ich meine Erlebnisse. Jeder ist erstaunt über den Mut des Gegenübers.
„Willst du uns nicht mal besuchen kommen?“, fragt Felix. „Selbstverständlich, sehr gerne sogar. Wenn ich es nicht vergesse“, schmunzele ich.
Danach schleichen sich Felix und Flo zurück, vermutlich in ihre gemütliche Höhle.


Wie lange ich dann noch geschlafen habe, weiß ich nicht. Es ist schon hell und mein Magen knurrt schon wieder so laut, als hätte ich ein Ungeheuer im Schlaf verschluckt. Da fällt mir der Fressnapf
vor der Tür zum Turm wieder ein. Genau! Ob da noch etwas zu holen ist.
Vorsichtig, Schritt für Schritt, taste ich mich die Treppe nach unten.
Die Tür ist immer noch leicht angelehnt. Ich spähe hinaus und blicke direkt auf einen vollen Futternapf mit köstlichem Fleisch. Kann das wahr sein?
Ich schließe kurz die Augen, um sie gleich wieder aufzureißen. Der Napf steht immer noch da. Sonst ist niemand zu sehen. Ein Wunder! Mit dem Kopf stoße ich die Tür weiter auf und stürze mich auf das Essen. Kaum habe ich die ersten Bissen im Mund, da höre ich auf einmal hinter mir eine unbekannte Stimme: „Habe ich dich, du Futterräuber!“
Erschrocken drehe ich mich um. Der Unbekannte hinter mir lacht laut auf, als er die Fleischreste in meinem Fell baumeln sieht. „Du siehst aus wie
eine frisch geöffnete Futterdose!“ Oh Schreck!
Das ist sicher der Wachhund Erwin, der keinen Spaß versteht.

Am nächsten Morgen

Ich bereite mich auf einen fürchterlichen Kampf vor, fahre meine Krallen aus und mache einen Buckel. Aber der Hund bleibt ganz
ruhig und schaut mich mit seinen braunen Dackelaugen friedlich an.

„Entschuldigung!“, murmele ich. „Ich habe doch so großen Hunger“, nuschelt mein voller Mund.
„Ach, du Armer. Iss ruhig, ich hole mir später noch
etwas vom Ortsbrandmeister Ebke. Er gibt mir immer das Futter, schließlich bin ich Dackel Erwin, der Wachhund der Feuerwehr.“
Kopfschüttelnd beobachtet er, wie ich das Essen in mich hineinschlinge.
„Wer bist du und woher kommt so ein hungriger
Kater?“, will Dackel Erwin nun wissen. Ich erzähle
ihm meine Geschichte, ohne die Marder zu erwähnen. Nicht, dass es noch Ärger gibt. Der Hund hört aufmerksam zu und wiegt dabei seinen Kopf leicht hin und her. „Was für eine abenteuerliche Geschichte. Ich dachte zuerst du bist der Bösewicht, der unsere Schläuche zerbeißt. Nun komm, ich
zeige dir die Feuerwache, die Gerätschaften und das Feuerwehrauto!“
Er dackelt dabei in Richtung der großen Tore.
Frisch gestärkt und sauber geleckt, flitze ich mutig hinterher.

Bild: Kater Levi & Dackel Erwin von Andrea Schramek, Wien

Durch eine kleine Klappe schlüpfen wir beide in das Gebäude und stehen direkt in der Halle. Auch hier sind die Wände voll mit allerlei Geräten, Seilen und Schläuchen. In der Garage stehen zwei große rote Autos, eines mit Leiter und eines mit einem riesigen Schrank und grauen Rollos. Erwin zeigt und erklärt mir alles ausführlich. Wofür man eine Drehleiter braucht und was in den Schrankkästen steckt.
Dann präsentiert er voller Stolz die Fotos an der Wand. Dort sind viele unterschiedliche Männer und Frauen zu sehen, aber immer mit Erwin, dem Dackel in der Mitte.
„Und jetzt zeige ich dir, wo man das Blaulicht und
das Signalhorn einschalten kann.“ Erwin klettert zur offenen Fahrertür hinein und ich springe hinterher.
In diesem Augenblick geht die Sirene auf dem
Hausdach los. „Das ist ein Feueralarm“, kommentiert Dackel Erwin den Krach.

Der erste Einsatz

„Na dann mal los, das wird dein erster Einsatz. Bist du bereit Kater Levi?“
Ich nicke etwas unsicher. Wir springen auf die hinteren Mannschaftssitze. Da kommen schon die ersten Männer angerannt. Wir rutschen weiter
in die Ecke, um Platz zu machen. Alles geht sehr schnell. Die Feuerwehrmänner springen in die Fahrzeuge.
Erwin flüstert mir zu: „Schau mal, der Mann mit der gelben Weste, das ist unser Ortsbrandmeister Ebke. Er leitet den Einsatz.“
Der Ortsbrandmeister begrüßt kurz Erwin. Dann stutzt er und schaut mich verwundert an. Aber nun ist keine Zeit für Fragen, denn schon öffnen sich
die Tore automatisch.

Mit Tatütata und Blaulicht fahren die beiden Einsatzwagen vom Hof. Über Funk erfährt der Einsatzleiter, Ortsbrandmeister Ebke, wohin die Fahrt
geht. Es brennt die Wiese bei dem Kiefernwäldchen direkt neben dem Bahnhof. Das ist eine Katastrophe. Wenn es nicht rechtzeitig gelöscht wird,
kann auch der Wald und der Bahnhof abbrennen.
Damit das nicht passiert, fahren die Feuerwehrautos so schnell sie können und alle anderen Autos machen Platz auf der Straße. Neugierig luge ich aus dem Seitenfenster. Die Häuser und Bäume
flitzen nur so vorbei. Unglaublich, denke ich, dass es bei dieser Geschwindigkeit keinen Zusammenstoß gibt. Ich habe beim Toben oft die Kurve nicht geschafft und bin mit Stuhlbeinen schmerzhaft zusammengestoßen.

Bild: Kater Levi fährt mit der Feuerwehr von Andrea Schramek, Wien

Nun halten die beiden Feuerwehrautos mit einem kräftigen Ruck an. Die Türen fliegen auf und alle Männer springen sofort raus. Dackel Erwin und ich hüpfen als Letzte hinterher.
Dann bemerke ich die brennende Wiese. Oh je, das Feuer sieht wirklich schlimm aus. Die Männer sind gut trainiert und jeder Handgriff sitzt. Die hellroten Feuerwehrschläuche werden ausgerollt und
mit den silbernen Rohrstücken verbunden. Das eine Ende des Schlauches wird an einer roten Eisensäule befestigt.
„Das ist ein Hydrant“, erklärt Erwin. „Das Löschwasser kommt aus der großen Wasserleitung der Stadt.“ Zwei Feuerwehrmänner halten am anderen Ende vom Schlauch die spitze Düse. Das Wasser zischt aus der Spritze und landet in einem hohen Bogen auf der brennenden Wiese. Weitere Schläuche werden ausgerollt. Von zwei Seiten wird die brennende Wiese mit Löschwasser besprüht.
Wie bei einem heftigen Gewitter stürzen nun viele dicke Tropfen auf die Flammen.

Wo eben das Feuer noch brannte, steigen kleine Dampfwolken in den Himmel. Ob so die Wolken am Himmel entstanden sind, frage ich mich. Während die Feuerwehrmänner das Feuer löschen, passen wir auf. Erwin knurrt die neugierigen Zuschauer an, die mit ihren Handys filmen. Niemand soll die Arbeiten behindern. Ich kann nur fauchen. Das scheint aber niemanden zu stören. Vielmehr schauen die wenigen Passanten erstaunt auf uns.
„Macht endlich Platz, husch, husch!“, schreie ich die Leute an. Erschrocken treten sie ein Stück zurück. Ob die Menschen mich verstanden haben? Wer weiß? Zum Glück ist der Brand schnell gelöscht.
Der Wald und der Bahnhof sind nicht in Gefahr gewesen. Das ist noch einmal gut gegangen. „Das waren bestimmt wieder unvorsichtige Menschen“, stellt Dackel Erwin sachlich fest. „Eine weggeworfene Zigarette ist bei dieser Trockenheit sehr gefährlich, das weiß doch jedes Kind.“ Ich kenne keine Zigaretten. Aber es müssen schlimme Dinge sein, wenn sie so ein großes Feuer verursachen können.

Bild: Kater Levi & Dackel Erwin im Einsatz von Andrea Schramek, Wien

Der Einsatzleiter Ortsbrandmeister Ebke befiehlt den Abmarsch zurück ins Feuerwehrhaus. Die Ausrüstung muss nun gereinigt und getrocknet werden. Ich möchte am Bahnhof bleiben, wenn ich schon einmal hier bin und mich genauer umsehen.

Abschied von Dackel Erwin

Ich verabschiede mich von Erwin: „Es wird Zeit, ich möchte weiter die Welt erkunden.“
Dackel Erwin ist traurig. „Du wärst sicher ein guter Kamerad für unsere Truppe“, schnieft er. Ich tröste ihn: „Die Feuerwehr ist für mich viel zu gefährlich,
da kommen bestimmt andere freiwillige Helfer.“
Alle Männer sitzen schon auf ihren Plätzen und warten auf die Abfahrt. Der Ortsbrandmeister gibt uns beiden schnell noch ein Leckerli zum Dank für den Einsatz. Dann steigt Dackel Erwin mit ihm in das Fahrerhaus. Sie winken kurz zum Abschied und die Feuerwehrautos biegen um die Ecke. Ich bin wieder allein, zumindest für den Moment.

November 2021

Titelbild: Illustration Andrea Schramek (andi-art-love), Wien

© 2021 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Fortsetzung : Kater Levi und seine Abenteuer:

Ab sofort als Kinderbuch erhältlich!

Taschenbüchlein 21 x 15 cm, 64 Seiten mit vielen Illustrationen von Andrea Schramek (andiart, andi-art-love)

Preis: 12,99 EURO zzgl. Versand 1,90 EURO ISBN: 978-3-9822772-3-3

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