Meine Oma hat mir früher oft davon erzählt, dass jeder Mensch seinen persönlichen Schutzengel hat. „Er wacht über Dich und passt auf Dich auf,“ sagte sie und streichelte mir dabei über den Kopf. Ich glaubte nicht daran, lauschte aber interessiert den Geschichten, wo die Engel aktiv waren. Mein Opa hat z. B. mit einer schweren Kopfverletzung den Krieg und die Gefangenschaft überlebt. Sein Schutzengel hatte ein Wunder vollbracht!
Ich war ein Junge vom Dorf und kam beim Spielen im Wald oft in brenzlige Situationen. Außer ein paar Kratzern an den Beinen und Platzwunden am Kopf ist nicht viel passiert. Ich hatte einfach Glück oder hatte mein Schutzengel mich beschützt?
der erste Großauftrag
Den ersten Großauftrag hatte mein Engel im Jahre 1987. Ich war Anfang Oktober mit dem Motorrad von Stralsund auf dem Weg zu meiner jungen Familie in Bad Sülze. Es war bereits dunkel und am Abend war auf der Straße zwischen Richtenberg und Tribsees niemand mehr unterwegs. Also gab ich Gas, war spät aus der Offiziershochschule weggekommen, und wollte etwas Zeit aufholen, denn ich hatte nur eine Nacht Landgang.
Die Straße war schnurgerade und ich befand mich zwischen den Orten auf freiem Feld, als ich einen Schlag spürte und mit dem Kopf zuerst über den Lenker flog. Das Motorrad überschlug sich und landete nur wenige Zentimeter neben mir und rutschte, funkensprühend mit mir zusammen, über den Asphalt in Richtung Straßengraben. Es ging alles so schnell und ein paar Sekunden später lag ich auf dem Rücken im Graben und sah die Sterne über mir. Es herrschte totenstille, kein Geräusch war zu hören. Völlige Dunkelheit umgab mich. Mir wurde eiskalt. Ich konnte mich nicht bewegen, keine Hände, keine Beine, einfach nichts. Schmerzen hatte ich nicht. Ich konnte nur noch denken.
Ein Nebelhauch zog über mich und mir wurde warm. Die Panik legte sich und ich atmete ruhig ein und aus. Ich konnte mich immer noch nicht bewegen, auch den Kopf nicht drehen. Und so sah ich weiter in den Sternenhimmel, bis ich ein Autogeräusch in der Ferne hörte. Wo kam der denn jetzt her? Aber ich lag im Graben, niemand konnte mich sehen! Ich richtete mich auf eine lange Nacht ein, in der Hoffnung am Morgen bei Tageslicht gefunden zu werden.
Das Auto kam näher, verlangsamte seine Fahrt und hielt tatsächlich an. Die Tür klappte zu und wenig später beugte sich ein Mann über mich und sagte panisch: „Was soll ich jetzt nur machen?“ Das wiederholte er insgesamt fünfmal! Ich konnte ihm nicht antworten und hoffte, ihm fällt noch etwas rechtzeitig ein. Er stand nur da und schaute mich an. Vielleicht sah ich komisch aus in meiner Montur mit Integralhelm auf dem Kopf?
Die Rettung kam in Form eines Krankenwagens, der zufällig auf dem Weg von einem Einsatz zurück zum Krankenhaus nach Stralsund wollte. Da mein Ersthelfer die Straße mit seinem Auto blockierte, hielt der Rettungswagen an. Ich spürte seine Erleichterung körperlich, als er Hilfe bekam. Ich stand zwar immer noch unter Schock und konnte mich nicht bewegen, aber ich hatte wieder Hoffnung. Mit Verdacht auf Halswirbelbruch wurde ich mit Blaulicht ins Krankenhaus nach Stralsund gebracht. Ich hatte keinen Bruch! Nur schwere Prellungen am ganzen Körper, selbst meine Zähne waren locker. Nach zwei Tagen konnte ich auch wieder meine Füße spüren und unter starken Schmerzen bewegen. Nach 2 Wochen durfte ich das erste Mal aufstehen und habe zu Hause angerufen. Meine Frau war erstaunt und geschockt zugleich, es hatte sie niemand über den Unfall informiert. Es gab damals noch keine Handys und E-Mail.
Mein Motorrad war Schrott und der Rehbock hatte den Zusammenstoß nicht überlebt. Seit diesem Unfall habe ich den wohlgemeinten Rat meiner Oma beherzigt: „Fahre nie schneller, als Dein Schutzengel fliegen kann.“ Aber galt das auch für Wildunfälle?
der zweite Auftrag
Die Antwort darauf erhielt ich letzte Woche. Unser Flieger nach Barcelona ging am frühen Morgen und so sind wir um halb zwei in der Nacht aufgebrochen. Irgendwo hinter Bochum auf der Landstraße, blinkte auf einmal ein gelbes Warnsignal in meinem Autodisplay. Eine Störung des Notbremsassistenten wurde angezeigt und ich sollte sofort Kontakt mit der Werkstatt aufnehmen.
Ich hielt an, weil das Blinken nicht aufhören wollte. Unseren Flieger sah ich schon ohne uns starten. Ich machte den Motor aus und schaltete den Warnblinker an. In diesem Moment trat ein großer Hirsch langsam auf die Fahrbahn. Blieb stehen, schaute in unsere Richtung. Seine Augen blinkten im Rhythmus der Warnblinkanlage. Fasziniert folgten wir seinem majestätischen Gang auf die andere Straßenseite, wo er stolz im Wald verschwand. Meine Frau und ich schauten uns ungläubig an. War das eine Halluzination aufgrund der Müdigkeit gewesen? Ich startete den Wagen neu und das gelbe Blinken im Display war weg. Mit gemischten Gefühlen fuhren wir weiter in Richtung Flughafen, wo wir pünktlich unseren Flieger erreichten.
Es gibt so viele Arten von Reiseleitern, wie es Reisearten gibt. Ich möchte aus eigener Erfahrung das Leben einer Busreiseleitung vorstellen. Über die Freuden eines Reiseleiters von Pauschal- und Flugreisen hat man in letzter Zeit schon genug im Fernsehen gesehen, Stichwort: Hotel-Tester und Co. Deshalb möchte ich darauf nicht weiter eingehen.
Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, die Reiseleiter haben einen Traumjob arbeiten, wo andere Urlaub machen. Aber so einfach ist das nicht. Sicher gibt es auch schöne Stunden im Leben eines Reiseleiters bei Busreisen, wenn das obligatorische Trinkgeld am Ende der Fahrt verteilt wird oder wenn man seinen Traumpartner für die Woche gefunden hat!
Die Busreise
Doch fangen wir von vorne an, die Begrüßung der Busgäste beim Einstieg am Heimatort oder auf einen der vielen Zustiege, den zentralen Busbahnhöfen und Autobahn- Raststätten auf dem Weg zum Ziel der Reise. Meist früh am Morgen darf man freundlich lächelnd auf sich allein gestellt die riesigen und schweren Schrankkoffer der Reisenden im Bauch des Megaliners verstauen. Genau in diesen Momenten ist der Busfahrer urplötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
Dann werden die Reisedokumente kontrolliert. Anschließend die bereits sitzenden Gäste erneut umgesetzt, weil der neu Eingetroffene ein steifes linkes Bein hat und nur bis zu zwei Reihen hinter dem Fahrer sitzen kann. Nach dem zwanzigsten Halt und völlig durchgeschwitzt werden nun alle Kunden an Bord im Namen des Busreiseveranstalters begrüßt und mit den wichtigsten Verhaltensregeln vertraut gemacht: 1. Der Bus hat zwei Ein- bzw. Ausgänge vorn und hinten. 2. Die Toilette im Bus ist defekt und wir werden deshalb alle zwei Stunden auf Rastplätzen, wo es meistens auch sanitäre Anlagen gibt, anhalten. 3. Während der Fahrt nicht rauchen, essen, trinken oder laut sein. 4. Aus Sicherheitsgründen müssen alle angeschnallt sein und unter keinen Umständen darf während der Fahrt aufgestanden werden. 5. Der geplante Reiseablauf ist heilig und darf niemals, niemals verändert oder angepasst werden. 6. Das Wichtigste: Während der Fahrt weder den Fahrer noch den Reiseleiter ansprechen!
Nach dieser Ansprache hat man zumindest bis zur ersten Rast seine Ruhe.
Bei der Ankunft am Reiseziel hat leider jeder Reiseleiter das Problem mit den Sonderwünschen der Gäste und dem garantiert falsch gebuchten Zimmer im Hotel. Während manche Gäste noch wie aufgescheuchte Hühner gackernd durch die Hotellobby irren, werden schon die ersten Zimmer reklamiert: Die Aussicht aus dem Fenster zum Hinterhof ist unzumutbar. Das Zimmer auf der Straßenseite ist zu laut. Ein Zimmer im Erdgeschoß ist zu unsicher, da kann man in der Nacht ausgeraubt werden. Das Zimmer in der 2. Etage ohne Fahrstuhl ist eine Zumutung für einen älteren Menschen. Das Zimmer hat nur eine Duschkabine. Eine Badewanne ist zu gefährlich und nicht mehr zeitgemäß. Die Klimaanlage ist zu kühl und viel zu laut. Ein Zimmer ohne Klimaanlage ist in diesen Regionen eine Zumutung.
Zum Glück sind bei Busreisen Hotels mit Pool oder eigenem Strand eher selten und so hat schon nach zwei Stunden jeder sein Zimmer ohne Meerblick bezogen. Dank der Mobilität sind die Absteigen meistens in Randlage von Städten oder in Gewerbegebieten angesiedelt, was die Aufsicht und die Kontrolle der Gäste zusätzlich begünstigt. Die obligatorischen Zuspätkommer bei Abfahrten lassen sich aber trotzdem nicht vermeiden.
Am Zielort und bei den angebotenen Ausflügen ist die Reiseleitung deswegen ständig bemüht, den aufgeregten Haufen zusammenzuhalten und an riesigen Schlangen vorbei in irgendwelche Museen zu schleusen oder zu Wein-, Käse- oder Süßigkeiten- Verkostungen zu bringen. Wobei die letzteren Orte für den ohnehin schmalen Geldbeutel des Reiseleiters eine Oase sind, denn für jeden herangefahrenen „potenziellen Käufer“ gibt es eine „Kopfprämie“ und einen Präsentkorb.
Hat man endlich seine Gruppe soweit erzogen, dass man sich mit ihnen auch auf etwas belebtere Plätze trauen kann, machen einem die Einheimischen Probleme. Nein, ich meine jetzt nicht die zahlreichen Trickdiebe oder Wegelagerer in Form von Gastronomie und Polizei, welche die Gruppe immer wieder aufscheuchen und für stundenlange Diskussionen zum Thema Menschenrechte und EU-Erweiterung führen. Sondern es ist die einheimische Touristenindustrie mit ihren undurchschaubaren Öffnungszeiten, Sonderbestimmungen und Veranstaltungen, welche sich innerhalb einer Woche komplett ändern können und somit jeden geplanten Reiseverlauf zum Scheitern verurteilen.
Herausforderungen
So kann es schon mal passieren, dass eine Reisegruppe vor verschlossenen Türen steht, weil das Kloster eine Woche früher Ferien macht. Die Prozession mit der Heiligen Maria schon vorbei ist, weil der Veranstaltungskalender nach dem Druck korrigiert wurde. Oder nur Busse mit einer bestimmten Höhe, Maximalgewicht oder heller Lackierung die Brücke zum Burgschloss befahren dürfen.
Dann heißt es improvisieren und sich nicht von den sicher gut gemeinten Vorschlägen der Reisegruppe beirren lassen. Ein paar Beispiele gewünscht?
Das Kloster ist zu? Aber die Klosterschenke ist doch offen. Freibier!
Keine Prozession, dann machen wir unsere eigne. Wer trägt die Heilige Maria?
Der Bus ist zu schwer? Dann steigen wir alle einfach aus oder halten die Luft an.
Der Bus ist zu hoch? Wir lassen die Luft aus den Reifen oder wir schneiden das Dach ab, dann haben wir ein Cabrio!
Wir sind schon so lange unterwegs, können wir nicht die paar Schritte zum Klosterberg hochlaufen? Darauf habe ich mich tatsächlich eingelassen.
Mein Fehler
Der kurze Fußweg entpuppte sich als ein vier Stunden Aufstieg quer durch den Urwald. Oben angekommen sahen wir im Nebel nur den unteren Teil eines Funkturms. Ich konnte mir auch nicht erklären, wohin das Kloster auf einmal verschwunden war. Der fünfstündige Abstieg bei nun stockfinsterer Nacht war jedoch noch schlimmer. Auf dem Marsch des Grauens zum Parkplatz zurück, haben wir trotz Wassermangels und „schweren Verletzungen“ keinen zurückgelassen. Das wir deshalb zu spät zum Abendessen ins Hotel gekommen sind und nichts mehr bekommen haben, war nicht meine Schuld, oder? Dabei hatten diesmal keine einheimischen Witzbolde die Wanderschilder verdreht, denn es waren auf unseren unbefestigten Waldpfaden, die wir gefunden hatten, erst gar keine vorhanden. Eine Navigationsapp gab es damals noch nicht. Jedenfalls betreue ich seitdem auch keine Wanderreisen mehr!
Fix und fertig, knapp dem Tode entkommen lag ich danach auf dem Bett, als es an meiner Zimmertür klopfte! Ich quälte mich hoch und dachte, mich trifft der Schlag, als ein Teil der Reisegruppe davorstand. Wollten Sie sich jetzt etwa schon beschweren, schoss es mir durch den Kopf.
Nein, weit gefehlt! Laut Reiseplan wäre ab 22:00 Uhr Tanz im Saal des Hotels. Die Räumlichkeit wäre aber nicht so einfach auffindbar. Vor einer halben Stunde wollten sie noch sterben und keinen Schritt mehr gehen und nun eine kesse Sohle aufs Parkett legen? Völlig fassungslos starrte ich sie an. Es sei schließlich auch im Reisepreis enthalten, bekam ich zu hören.
Kopfschüttelnd und die letzten Kräfte mobilisierend, wankte ich auf meinen riesigen Blasen voraus, um den Herrschaften den Weg zum Saal zu zeigen.
Egal wie sich ein Reiseleiter selbst fühlt, er muss immer ansprechbar sein. Er kümmert sich um alle Wehwehchen seiner Gäste persönlich. Angefangen bei einem eingeklemmten Nervus ischiadicus bis hin zu den vergessenen Herztropfen. Selbstverständlich ist er auch verantwortlich für das schlechte Fernsehprogramm, für das Wetter und für den Stau auf der Autobahn.
Aber die absolute Krönung für jeden Reiseleiter ist, wenn man am Pfingstsamstag vor achtzig Leuten steht und erklären muss, dass die bezahlte und schon seit Monaten ausgebuchte Reise nach Paris nicht stattfinden kann, weil der Chef vergessen hat, den Bus zu bestellen. Diesen Aufruhr kann man nicht beschreiben. Wegen der Zensur verzichte ich auf die Wiedergabe der Schimpfwörter, welche mir damals an den Kopf geworfen wurden.
Nachdem ich diesen dunkelsten aller Tage überlebt hatte, habe ich beschlossen, keine Busreisen mehr zu begleiten. Übrigens, mein Ex- Chef sucht noch einen Reiseleiter! Hätte jemand Interesse?
Oktober 2008
Titelbild: Ingo M. Ebert (privat) – Funkturm auf dem Kreuzberg/Rhön
Draußen ist es hell. Die Woche hatte ganz normal begonnen. Ich muss heute nicht zur Arbeit, habe frei, keine Termine.
Ich gehe ohne Jacke in die Tiefgarage unseres Hauses, wahrscheinlich wollte ich etwas aus dem Auto holen. Auf dem hinteren Parkplatz steht mein weißes Cabrio. Es müsste mal wieder gewaschen werden. Meine Gedanken schweifen ab. Auf dem weißen Lack sieht man jedes Staubkörnchen. Wie ich das hasse.
Inzwischen bin ich bei dem Auto angekommen und greife mit der linken Hand nach der Fahrertür. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein kleines schwarzes Teil so groß wie eine Spraydosenkappe unter das Fahrzeug rollen. Ich denke, hast du die Kappe vom Imprägnierspray für das Cabrio-Verdeck hier liegen lassen?
Ich bücke mich, um unter das Auto zu greifen, als mich eine sanfte Gewalt erfasst und einige Meter nach hinten taumeln lässt. Vor Schreck gehe ich in die Knie. Was war das? Ich starre fassungslos aus vier Metern Abstand unter das Auto. Da ist nichts zu erkennen, sieht aus wie immer. Der Druck ist auch weg.
Das kann ich mir nicht einbilden, oder?
Jetzt ist mein Kampfgeist geweckt. Trotzig denke ich: Na warte, wollen wir doch mal sehen, wer hier was zu melden hat.
Sicherheitshalber krieche ich auf allen vieren entschlossen, aber langsam auf mein Auto zu. Den Blick dabei starr und aufmerksam nach vorn gerichtet. Dort ist immer noch nichts zu sehen. Niemand hält mich auf.
Ich erreiche das verschmutzte Vorderrad. Halte mich mit der Rechten am Reifen und packe blitzschnell mit der linken Hand in das Nichts unter den Wagen. Sie prallt unerwartet auf einen unsichtbaren Widerstand, so als greife ich in eine gespannte Wolldecke.
Im gleichen Augenblick packt mich eine starke Kraft, die ich nicht erwartet hatte und schleudert mich quer durch die Tiefgarage. Wie eine Briefmarke im Sturm werde ich in die andere Ecke gewirbelt, wo ich benommen in mich zusammensacke.
Mein Gott, was ist das? Ich spüre neben dem Schmerz im Kreuz, wie sich eine kalte Gänsehaut von den Waden über den Rücken bis zur Kopfspitze ausbreitet. Meine Nackenhaare sträuben sich. Ich spüre Angst! Blut tropft mir aus der Nase.
Es ist immer noch nichts zu sehen zwischen mir und dem weißen Cabrio auf der anderen Seite der Tiefgarage. Ich atme gehetzt, die mit Abgasen geschwängerte Luft ein. Mir wird schwindelig und ich reiße meine Augen weit auf, kämpfe dagegen an. Bloß nicht ohnmächtig werden, dann bin ich geliefert!
Wer oder was zum Teufel hockt da unter meinem Auto? Diese Frage bohrt sich in mein Gehirn. Was für ein beschissener Albtraum ist das hier?
Januar 2021
Titelbild: Ingo M. Ebert (privat) – Albtraum Tiefgarage
Es war einmal ein kleines Maiskörnchen, das wuchs an einem Maiskolben auf einem Feld, unweit der Stadt. Die Maispflanze befand sich auf einem Hügel. Der kleine Berg war groß genug, um von dort eine großartige Aussicht auf die kleine Stadt zu haben, die sich wie eine riesige Taube in die umliegenden Felder schmiegte.
Ein rundlicher, freundlicher Bauer hatte das Maisfeld gleich neben seinem Hof angelegt. Auf dem Bauernhof gab es noch viel mehr, wie Tiere zum Streicheln, ein Bauern Café und einen Spielplatz unter Bäumen mit viel Raum zum Toben. Die Kinder aus der Stadt kamen gern hierher, denn es war der allerbeste Abenteuerspielplatz weit und breit.
Unser kleines Maiskörnchen hatte viel Zeit in der Sonne verbracht und hatte eine gesunde gelbe Farbe bekommen. Da es sich genau an der Spitze des Maiskolbens befand, war es klein und kugelrund. Eines Tages war es soweit und der Maiskolben wurde geerntet. Keinen Tag später schenkte der Bauer genau diesen Kolben einem kleinen, blonden Mädchen mit Sommersprossen auf der süßen Stupsnase. Das kleine Mädel begann sofort den Maiskolben abzuknabbern. Das kleine Maiskörnchen wollte womöglich nicht vernascht werden und ließ sich nach unten fallen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Zähne an der Spitze angekommen waren.
Das Maiskörnchen kullerte vergnügt den Hügel hinab. Doch es war nicht weit gekommen, als ein Hase über den Weg sprang und nach dem Maiskörnchen schnappte. Puh, das war knapp, gerade noch so zwischen den Fellpfoten hindurch geschlüpft. Das hatte eine Krähe gesehen. Sie rief: „Warte, ich will Dir helfen.“ Dabei pickte sie nach dem kleinen Maiskörnchen. „Ich brauche keine Hilfe!“ rief das Maiskörnchen, wich geschickt dem Schnabel aus, kullerte schneller den Weg hinunter und verschwand am Ende im Gras. Die Krähe flog schimpfend davon.
Das war knapp und das Maiskörnchen musste sich von dem Schrecken erst einmal erholen. Doch schon raschelte es im Gras und eine kleine freche Feldmaus erschien. Die Maus sagte: „Ich bringe Dich in Sicherheit.“ Packte das kleine Maiskörnchen und huschte damit in seinen Bau am Fuße des Hügels. In den Gängen war es dunkel und das Maiskörnchen konnte nichts sehen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde es in einer Vorratshöhle der hellbraunen Feldmaus vorsichtig abgelegt. Durch ein kleines Lüftungsloch blinkte ein vereinzelter Sonnenstrahl in die kleine Höhle und das Maiskörnchen sah sich mutig um. Es war hier nicht allein. Weitere Maiskörner, ein paar grüne Erbsen, eine angeknabberte große rote Erdbeere, ein kleiner grüner Apfel und ein Stückchen Weißbrot mit Senf dran. Das kleine Maiskörnchen rollte, soweit es konnte in die hinterste Ecke, aber noch so, dass es Nahe des Sonnenstrahls lag. Es warte jeden Tag auf die Feldmaus. Doch die kam nicht mehr.
Das Maiskörnchen verschlief den trüben Winter und wurde im Frühling von einem Sonnenstrahl wach gekitzelt. Die Höhle war warm und feucht und das Maiskörnchen bemerkte an sich eine Veränderung. Es war nicht mehr goldgelb und rund, sondern runzelig und braun. Aus dem Inneren heraus begann ein kleiner weicher weißer Trieb zu wachsen. Die Faserwurde dicker und kräftiger mit feinen Härchen. Dann begann sie in die Erde zu kriechen, wie ein Regenwurm. Gleichzeitig wuchs eine grüne Faserschlange in die Höhe, dem Licht entgegen. Das kleine Maiskörnchen war nun gespannt, was noch alles passieren würde und gab seine letzte Energie in den grünen Trieb mit zwei zarten Blättchen ab, die unaufhaltsam nach oben krochen.
Aus den zarten Sprossen wuchs im Laufe des Sommers eine neue Zuckermaispflanze heran. Und ratet mal, wer zum Ende des Sommers am Maiskolben ganz oben an der Spitze auf die Ernte wartete?
Titelbild: Das kleine Maiskorn von Andrea Schramek, Wien (andiart)
Ich weiss nicht wann. Aber es war wirklich. Ich saß neben Athanasia Skipe in meinem Zimmer. Es war ziemlich klein. An der Decke war eine schwach leuchtende Lampe. Das Licht schien ihr aufs Gesicht. Sie sah wirklich gut aus. Ich strich ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Sie blickte mir tief in die Augen. Ich sah die goldenen Sprenkel in ihren Augen. Bis vor ein paar Wochen hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was sich hinter dem geheimnisvollen Glitzern verborgen hatte. Doch nun wusste ich es. Athanasia war nicht ein gewöhnlicher Mensch wie ich. Sie hatte unglaubliche Fähigkeiten. Ich selbst hatte es zuerst nicht geglaubt. Sie hatte es mir beweisen müssen, aber jetzt glaubte ich ihr. Sie war unsterblich. Da gab es nur eine Ausnahme, wenn jemand sie töten würde. Ich wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr Vater war. Sie wuchs bei ihrem Stiefvater auf, zusammen mit ihrem Stiefbruder Jeremy. Er hatte seine Mutter verloren, als er noch ein Baby gewesen war. Auch der Freund seiner Mutter war ums Leben gekommen. Und jetzt lebte er bei seinem leiblichen Vater. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Jedenfalls sah sie aus wie jedes normale 15-jährige Mädchen. Zu meinem Erstaunen wandte Athanasia ihren Blick ab und meinte: „Ich muss mit dir reden, Jack.“ „Was ist denn?“, fragte ich sie verwundert. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte: „Dads Befürchtungen sind wahr geworden.“ Ich starrte sie einen Moment überrumpelt an. „Dieser Massenmörder, der Jeremys Eltern umgebracht hat. Er weiß, dass ich Agashas Abkömmling bin. Die Tochter der Dämonin Krankheit und des Verderbens.“ „Aber du lebst nicht mehr in der Hölle“, sagte ich sanft. „Das spielt doch keine Rolle. Er will mich umbringen. Er will der Einzige sein, der ewig leben kann. Denn wer mich umbringt, wird unsterblich“, ihre Augen füllten sich mit goldenen Tränen. Ich nahm sie fest in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. „Aber du bist nicht so wie sie. Du wohnst bei Herrn Skipe. Deine Mutter hat die Macht zu zerstören. Du, die des Heilens.“ „Ich kann nicht bleiben. Dad wird mich verstecken.“ „Wie lange?“, fragte ich. „Lange“ sagte Athanasia knapp. Ich wusste, was das bedeutete. Wenn lange für einen Sterblichen einige Jahre war, wie viele Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte sollten das dann bitte für eine Unsterbliche sein? „Ich liebe dich“, schluchzte Athanasia „aber es muss so sein.“
Vergessen
Ich konnte es nicht glauben. Eigentlich hatte ich es schon immer gewusst. Doch ich wollte es einfach nicht glauben. „Niemand außer Dad und Jeremy werden sich an mich erinnern können. Dazu wird Dad einen speziellen Zauber anwenden. Wenn ich dann aber gleich wiederauftauche, bringt das Ganze nichts.“ Jetzt kullerte auch mir eine Träne über die Wange. Das war so ungerecht. Was sollte ihr Stiefbruder damit, sich an sie zu erinnern. Er mochte sie ja sowieso nicht. Schnell wischte ich sie ab. Mir wurde bewusst, was das hieß. Ich würde mich nicht mehr an Athanasia erinnern können. Aber ich liebte sie doch. Die Vorstellung, sie zu vergessen, tat schrecklich weh. Irgendwo in meiner Brust spürte ich es hoffnungsvoll pochen. Ich liebe sie. Niemand kann mich dazu zwingen, sie zu vergessen, dachte ich. Doch meine Hoffnung war nicht sehr groß. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Herr Skipes Zauber funktionieren würde. Schließlich war er ein Cogitiates, ein menschenähnliches Wesen, dass unter anderem Gedanken lesen und Erinnerungen auslöschen konnte. „Jack“, sagte Athanasia, „bitte versteh das.“ Ich nickte betrübt. „Schau in diesen Spiegel“, sie deutete hinter mich. Und wir drehten uns beide um. Ich sah einen 15-jährigen Jungen mit blondem, fast weißem Haar, hellblauen Augen und einem eher spitzen Kinn, der unglücklich zurück starrte. „Und jetzt schau nur den Spiegel an.“, sagte sie schluchzend. „Ich liebe dich“, sagte sie noch einmal. Ich wollte meinen Blick von dem Spiegel wegreißen, doch ich konnte nicht. Ein letztes Mal sah ich im Spiegel Athanasias braune Augen mit den goldenen Sprenkeln. „Ich dich auch“, meine Stimme war vermutlich nur noch ein Flüstern. Im nächsten Augenblick blickte ich in den Spiegel. Das Einzige, was ich sah, war ein blonder Junge. Dann schüttelte ich verwirrt den Kopf und stand auf. Von diesem Augenblick an waren meine Erinnerungen an Athanasia verschwunden.
„Hey Jack“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah meinen besten Freund Greg an. „Hi“, sagte ich. „Spielen wir zusammen Fußball?“, fragte er. Greg war sehr sportlich. Er liebte Fußball über alles. Und bat mich fast jede Pause in der Schule, ob ich mit ihm trainieren wollte. Ich stimmte zu und wir gingen zum roten Fußballplatz. „Mit Mischel und mir läuft es gerade richtig gut“ erzählte Greg, während dem er mit dem Fußball jonglierte. Ich nickte. Greg hatte jeden Monat eine neue. Er war sehr beliebt. Ich war da eher der Typ, der spitze Bemerkungen um sich warf. Ich wusste, dass das nicht besonders nett war und das nicht zu Beliebtheit führen würde. Aber zu meiner Verteidigung: Mein Leben war ziemlich scheiße. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich Anwalt werde und haben mich auf ein behindertes Internat geschickt. Ich hatte wenige Freunde und war gerade dabei, meine Eltern mit schlechten Schulnoten zu enttäuschen. „Und, wie läuft es mit Noemi?“, fragte Greg belustigt. Er wusste, dass ich nicht gerne darüber sprach. „Ich mag sie.“ Erwiderte ich knapp. Greg kickte mir den Ball zu und ich warf ihn weniger geschickt zurück. Es klingelte viel zu früh. Wir nahmen unsere Schultaschen vom Boden und liefen Richtung Schulhaus. Das Treppenhaus war voll mit Schülerinnen und Schülern. Zielstrebig lief ich nach oben. Greg folgte mir etwas langsamer. Als ich mich ein wenig umblickte, sah ich Jeremy. Hasserfüllt starrte ich ihn an. Ich hatte schon immer eine große Wut gegen ihn. Wieso wusste ich nie genau. Aber sicher auch, weil er berühmt war. Nicht gerade auf der ganzen Welt, aber zumindest in der Umgebung. Ein richtiger Held. Aber nicht für mich. Er war nur deshalb so bekannt, weil seine Familie, als er etwa ein Jahr alt war, von einem Mörder heimgesucht wurde. Er hatte überlebt. Als einziger der Familie. Seine Mutter hatte ihn mit ihrem Leben beschützt. Nach dem Angriff hat man den Mann nie wiedergesehen, der all die schrecklichen Taten begangen hatte. Meine Eltern hatten, so sagte man, dem Mörder geholfen. Ich weiß nicht genau bei was oder ob sie jemanden umgebracht haben, aber ich wusste, dass sie einige Dinge getan hatten, die ich niemals machen würde. Mit hoch erhobenem Kinn stolzierte ich auf ihn zu. „Na tut dir dein hässliches Gesicht noch weh, nachdem du gestern hingefallen bist?“, giftete ich ihn an. Es tat gut, jemanden zu beleidigen. So konnte ich für wenige Sekunden vergessen, wer meine Eltern waren und was sie von mir verlangten zu werden. „Sei ruhig Jack, antwortete Jeremy wütend. „Oh nein, die Legende Jeremy Skipe möchte nicht hässlich sein“, feixte ich weiter. Er wollte auf mich losgehen. Aber sein Kumpel Raffael hielt ihn zurück. „Jeremy und sein armer Freund der bemitleideten Familie Rotschopf.“, mit diesen Worten wandte ich den beiden den Rücken zu und machte mich schnell aus dem Staub. Leider fühlte ich mich kaum besser.
Geheimnisse
Die letzte Stunde vor Schulschluss hatte ich Chemie bei Herrn Skipe. Mein absolutes Lieblingsfach. Nicht dass ich Klassenbester wäre oder so. Obwohl Herr Skipe auch Jeremys Lehrer war, schien er ihn nicht zu mögen. Ich meine, Herr Skipe war sowieso nicht in der Lage, irgendjemanden zu mögen, nachdem seine große Liebe Liljana von dem unbekannten Massenmörder umgebracht worden war. Doch er schien mich viel mehr leiden zu können als seinen eigenen Sohn. Das freute mich immer wieder. „Der Unterricht ist zu Ende“, sagte Herr Skipe. Ich packte meine Tasche und lief die Tür hinaus. Als ich schon fast den Flur entlanggelaufen war, hörte ich Skipe sagen: „Jeremy warte noch kurz.“ Ich ergriff die Gelegenheit. Wenn dieser riesige Rafael nicht bei ihm ist, ist er um einiges schwächer, dachte ich. Also wartete ich hinter der Tür. Da hörte ich, was die beiden besprachen. „Wie geht es Athanasia?“, ich erkannte Jeremys Stimme. „Körperlich gut, geistig schlecht“, antwortete Herr Skipe kalt. „Gewaltigen Liebeskummer“, ergänzte er mehr zu sich selbst. „Was kann sie nur an Jack finden?“, fragte Jeremy aufgebracht. „Er ist der Sohn dieser beiden früheren Anhänger des Massenmörders.“ „Bedenke, dass auch Athanasia von dem Bösen abstammt. Vielleicht findet sie sich von dieser dunklen Seite angezogen.“ „Das gibt keinen Sinn. Sie wird von dieser Seite doch gejagt! Du weißt, dass er wiederaufgetaucht ist. Er wird uns noch alle umbringen.“, entgegnete Jeremy wütend. Ich hörte Schritte. Da mir bewusst war, dass sie über mich geredet hatten, gab ich meinen Posten auf und lief schnell auf das Zimmer. Hastig schloss ich die Tür zu. Greg würde erst später kommen. Dann hatte ich unser Zimmer für etwa noch eine Stunde für mich allein. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. War das wirklich ich gewesen, über den sie gesprochen hatten. Mein Handy klingelte. Ich ging ran. „Noemi?“, fragte ich verwundert. „Hör zu Jack“, fing sie an, „ich weiß ja, dass deine Eltern dir Druck machen und so, aber ich kann so nicht mit dir zusammen sein.“ Ich hatte es schon erwartet. „Aha, und in wen hast du dich verguckt?“, fragte ich und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. „Elia, wir treffen uns heute im Kino und dann …“ Ich schnitt ihr das Wort ab, in dem ich auflegte. Dass sie es wagte, mich anzurufen. So eine Ausnutzerin. Ich war mir sicher: Schlimmer konnte es nicht kommen. Aber so wirklich traurig war ich auch nicht über die Trennung. Richtig verliebt war glaub niemand von uns in den anderen gewesen. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber meine Einstellung gegenüber anderen Menschen war nicht halb so positiv. Deshalb war es schwer, eine Freundin zu finden. Den Rest des Abends kreisten meine Gedanken um das Gespräch zwischen Jeremy und seinem Vater. Doch es ergab keinen Sinn. Konnten sie vielleicht einen anderen Jack gemeint haben. Aber ich war der Einzige auf diesem Internat, der Jack heißt. Zu allem Überfluss kannte ich nicht einmal eine Athanasia. Da war es unwahrscheinlich, dass sie in mich verliebt war. Oder? Irgendwie kam mir der Name so wichtig vor. Ich überlegte so angestrengt nach wie schon lange nicht mehr. Aber ich konnte mich nicht erinnern.
Albtraum
Am nächsten Morgen, einem Samstag, war ich schweißgebadet aufgewacht. Sehr wahrscheinlich ein schrecklicher Albtraum. Aber wie ich mich an den Namen so konnte ich mich auch an den Traum kaum erinnern. Ein Spiegel und goldenen Augen waren im Traum vorgekommen. Mehr wusste ich nicht. Ich ging aufs Jungenklo im ersten Stock, um mich zu duschen. Alle Jungen, die ihr Zimmer auf dieser Etage hatten, teilten sich ein ziemlich großes Bad. Das warme Wasser auf meiner Haut fühlte sich beruhigend und erfrischend an. Ich band mir ein Badetuch um, das mir bis zu den Knien reichte und lies mich zuerst für eine Weile so auf der Bank neben der Dusche nieder. Wieder versuchte ich mich zu erinnern. Athanasia. Ich kannte diesen Namen von irgendwoher. Da war ich mir sicher. Dann zog ich meine Schuluniform an und trat in den größeren Bereich im Bad. Hier gab es einige Waschbecken. Ich blickte in den Spiegel, wie ich es im Traum gemacht hatte. Als hoffte ich Antworten von meinem Spiegelbild zu bekommen. Doch es schwieg. „Athanasia, woher kenne ich diesen Namen?“«, fragte ich mich zum hundertsten Mal. Ich blickte erneut hoch in den Spiegel. Da sah ich ein Spiegelbild. Es war nicht mein Eigenes. Es war eine in Kapuzen gehüllte Gestalt. Der Silhouette zufolge tippte ich auf einen Mann. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte. Ich drehte mich ruckartig um. Doch bevor ich etwas machen konnte, zog der Mann ein langes Messer aus einer seiner Tasche hervor. Ich versuchte nicht zu würgen. Mich überkam Panik. Ich war sowieso nicht gerade der Mutigste dieser Welt. Das ließ mich fast tot umfallen. »Lauf weg! «, befahl ich mir. Doch der Mann war zu schnell. Ohne zu zögern hatte er zugestochen. Mitten in meine Brust. Ich sackte zu Boden. Völlig taub gegen die Welt. „Zeit zu sterben, Jack“, sagte der Mann. Das konnte ich aber nicht mehr genau hören. Alles wurde wie von einem Nebel eingehüllt. «Ich sterbe «, schoss es mir durch den Kopf. Ich wollte schreien, aber meine Kehle brachte nur ein leises Geräusch hervor. Noch einmal stieß der Mann brutal zu. Diesmal tief in meinen Bauch. Ich stöhnte laut auf vor Schmerz. «Eine grausame Weise zu sterben «, dachte ich. Der Mann stampfte davon, schloss die Tür ab und ließ mich am Boden zurück. Arme und Beine in einem unnatürlichen Winkel von mir gestreckt lag ich da. Mein weißes Hemd war blutdurchnässt. Ich hatte keine Ahnung, warum der Mann das getan hatte. Aber das war sowieso nicht wichtig. Denn ich war überzeugt, dass ich nicht mehr lange zu leben hatte.
Nach Luft ringend lag ich auf dem Boden. Unfähig, mich zu bewegen. Jeder Atemzug kostete mich sehr viel Anstrengung. Meine aufgeschlitzte Brust brannte und schmerzte, wie ich es mir nicht einmal in meinen Träumen vorstellen konnte. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Sie schrie erschrocken auf, als sie mich entdeckte und rannte auf mich zu. Schluchzend kniete sie sich neben mich und zerriss schnell mein blutgetränktes Hemd. „Jack“, sagte sie immer wieder. Hoffnung regte sich in mir. Doch ich konnte sie kaum noch wahrnehmen. Das Mädchen war zu spät gekommen, jede Sekunde würde ich sterben. Nachdem sie mir das Hemd aufgerissen hatte, berührte sie mit ihren Fingern meine nackte, verletzte Brust. Zuerst zuckte ich zusammen und stöhnte erneut auf, als mich ein noch schlimmerer Schmerz überkam. Dann fühlte ich, wie der Schmerz nachließ. Als würde meine Wunde geschlossen werden. Ich blickte hoch und sah nur noch zwei mit Tränen überströmte Augen. Braune Augen mit goldenen Sprenkeln und goldenen Tränen. Für einen Moment konnte ich mich wieder an alles erinnern: Die Welt der Fabelwesen und Zauberei, an Athanasia, die Tochter einer Dämonin, die auf der Flucht war vor dem Massenmörder und an den Spiegel in dem ich Athanasia zum letzten Mal gesehen hatte. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Sterben oder Leben
Um mich herum war alles pechschwarz. Stickige Dunkelheit schien mich einzuhüllen. Zuerst dachte ich, dass ich tot bin. Schließlich war ich schwer verletzt worden. Doch dann fühlte ich Wärme. Also konnte ich noch nicht tot sein. Oder? Nein, ich war noch am Leben. Ich hörte Stimmen, aber ich konnte sie nicht erkennen oder verstehen. Ich wusste nicht, wer mit mir sprach Freund oder Feind. Da schaffte ich es endlich die Augen zu öffnen. Athanasias Gesicht nahm langsam Gestalt an. Ich fühlte mich, als ob eine Lawine voller Erinnerungen mich überrollen würde. „Athanasia“ brachte ich hervor. Mein ganzer Oberkörper tat mir weh. Doch es war nicht besonders schmerzhaft. Um das Ganze zu hinterfragen, hatte ich zu wenig Kraft. Ich war einfach nur froh, noch am Leben zu sein. „Jack!“, schrie Athanasia, als sie merkte, dass ich die Augen geöffnet hatte. Vor lauter Aufregung hob sie ihre magischen, heilenden Hände von meiner nackten Brust und ich schrie erschrocken auf. Denn jetzt überkam mich der Schmerz, den ich schon vorher erleidet hätte, hätte Athanasia ihre Kräfte nicht eingesetzt. Es fühlte sich so an, als ob mich jemand durch einen Speer gestoßen hätte. Ich keuchte und versuchte mühsam Luft zubekommen. Meine Brust zitterte und mein ganzer Oberkörper zuckte immer wieder. Ich fing an zu schluchzen. Jetzt bekam ich noch schlechter Luft. Mein Atem ging flach und schnell. Zu schnell. Zum Glück dauerte das ganze nur einige Sekunden, bis Athanasia ihre Hände wieder auf die klaffende Wunde nahe meinem Herz presste. Der Schmerz wurde schlagartig zu einem Unangenehmen ziehen und stechen. Es tat zwar immer noch weh. Aber um Welten weniger als vorher. Keuchend lag ich auf dem Rücken und schaute mich so gut es ging um. Mein Hemd hatte ich nicht mehr an. Doch ich trug immer noch die dunkelgraue Schuljeans und die schwarzen Turnschuhe. Es war ziemlich unbequem. Denn ich lag auf dem harten Boden von Herrn Skipes Schulzimmer, der neben mir stand und mich mit besorgter Miene betrachtete. „Bald wird es dir besser gehen.“, versicherte Athanasia mir. Doch sie klang eher, als wollte sie sich selbst überzeugen. Plötzlich kam Jeremy hereingerannt. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, sagte er völlig außer Atem. „Und er kann sich wirklich an dich erinnern?“ Athanasia nickte. Sie hatte noch immer nicht aufgehört zu weinen. Doch sie tat es lautlos. Ich sah die goldenen Tränen, die ihr über die Wangen kullerten. „Aber wie kann das sein?“, fragte Jeremy seinen Stiefvater. „Ich habe eine Vermutung“, begann Herr Skipe, „als Jack so versessen darauf war zu wissen, wer Athanasia ist, und er sie dann auch noch sah, sind seine Erinnerungen und auch die aller anderen Menschen zurückgekehrt“.
„Du hättest in deinem Versteck bleiben sollen“, sagte Jeremy streng zu Athanasia, „noch mal kann Dad die Erinnerung an dich nicht löschen. So was geht nur einmal.“
„Jeremy, du weißt genau, dass ich es spüre, wenn jemand, den ich kenne, schwer verletzt ist und meine Hilfe braucht. Ich habe die Macht, denen zu helfen. Darum tue ich es.“, verteidigte sich Athanasia. Sie hatte aufgehört zu weinen und tat so, als versuche sie ihre Hände auf die richtige Stelle meiner Verletzungen zu halten. Doch vermutlich wollte sie nur den Blicken der anderen ausweichen. Nun bemerkte ich erst, dass sie sich für mein Leben in große Gefahr begeben hatte. Denn jetzt, da sich der unbekannte Mörder wieder an sie erinnern konnte, wollte er sie töten. Wieso eigentlich? Niemand war sich sicher. Aber vermutlich, weil derjenige, der sie tötete, unsterblich werden würde. Benommen blickte ich zu Jeremy hoch. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er jetzt, da ich so verletzlich war, nach mir geschlagen hätte. Meinem Leben ein Ende bereitet hätte. Doch er tat es nicht. Anstelle dem brüllte er Athanasia an: „Wie konntest du nur! Wie konntest du dein Leben für ihn aufs Spiel setzen. Er ist böse! Was, wenn dich dieser Mörder tatsächlich tötet. Und er unsterblich wird. Er wird die Möglichkeit haben, Jahrhunderte lang zu töten. Wie konntest du ihm helfen! Wie um alles in der Welt konntest du dich überhaupt in ihn verlieben.“ Jetzt wurde Athanasia richtig wütend. Ich merkte, wie sich ihre Finger auf meiner Brust verkrampften. Dann schrie sie: „Jeremy, Du herzloser kalter Stein! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Jack ist kein böser Mensch! Weißt du wieso? Weil er niemals jemanden sterben lassen würde, wenn er es verhindern könnte. Du schon! Du wolltest ihn einfach verbluten lassen! Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ Jeremy hatte es die Sprache verschlagen. Er lief auf die Tür zu und wollte das Zimmer verlassen. Doch er drehte sich noch mal um und blickte zu mir runter. Hilflos, schwach wie ich war, konnte ich nichts anderes als zurückzublicken. „Ich sage dir eines, Jack Midare“, drohte er mir, „wenn sie umgebracht wird, ist das ganz allein deine Schuld!“
Wunder
„So, jetzt sollte es gehen“, verkündete Athanasia. Ein paar Stunden waren vergangen, seitdem ich im Schulzimmer aufgewacht war. Ich konnte wieder ohne Schmerzen reden. Nach wie vor lag ich auf dem Boden. Nun aber auf einigen weichen Kissen. Langsam hob sie ihre Hände von meiner Brust ab. Ich drohte nicht mehr zu verbluten, da die Wunde durch Athanasias Magie einigermaßen geschlossen worden war. Ein leichter Schmerz kam in mir hoch und ich versuchte nicht zusammenzuzucken. „Und jetzt?“, fragte ich, „Was wirst du tun Athanasia?“ „Ich weiß es nicht.“, gestand sie und schaute ihren Vater um Rat bittend an. Doch er sagte nichts. Langsam versuchte ich mich aufzurichten. Nach ein paar Minuten getraute ich mich sogar aufzustehen. Wackelig stand ich auf den Beinen. Erst jetzt merkte ich, wie kalt mir war. Herr Skipe bemerkte es und reichte mir einen frischen, schwarzen Pullover. Schnell zog ich ihn an. „Das sage ich meinem Vater“, sagte ich wütend, „diese Schule sollte geschlossen werden.“ Athanasia sah mich schockiert an. Doch Herr Skipe sagte nur kalt: „Sie sind schon auf dem Weg hierher.“ Wenige Sekunden waren vergangen, als mein Vater in das Zimmer trat. Meine Mutter folgte ihm. Mein Vater hatte seine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mir entging der überraschte Ausdruck auf Athanasias Gesicht nicht. Sicher hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sehr ich meinem Vater glich. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als von meinen Eltern in den Arm genommen zu werden. Doch steinkalt, wie sie waren, tätschelte mir meine Mutter nur die Schulter. Immer noch besser als mein Vater, der sich nicht einmal die Mühe machte, mich anzusehen. Sie wirkten beide sehr betrübt. „Ich bitte um Privatsphäre“, meinte er arrogant. „Wie sie wünschen Herr Midare“, antwortete Herr Skipe. Ich merkte, dass er sich respektlos behandelt fühlte. Nur widerwillig verließen er und Athanasia das Zimmer.
„Oh Gott, was hat er dir nur angetan?“, fragte meine Mutter besorgt. Anstatt zu antworten streifte ich mit meinen Fingern leicht über die Stelle, wo ich wusste, dass sich unter meinem Pulli die Narben befanden. Ich zögerte einen Moment und fragte mich, ob es meine Eltern wirklich interessieren würde. Dann kam mir der Gedanke, dass mein Vater sicher froh sein würde, wenn er einen Grund hätte, sich bei jemandem zu beschweren. Also zog ich meinen Pullover aus und gab den Blick auf die zwei riesigen frischen Narben frei. Als ich sie betrachtete, wurde mir bewusst, wie stark Athanasias Heilkräfte waren. Ohne sie wäre ich schon lange tot. Ich hörte meine Mutter laut schlucken. Doch sie machte sich immer noch keine Anstalt mich in den Arm zunehmen. »Mach dir nur nicht die Mühe, Mom. Schließlich ist dein Sohn gerade beinahe ermordet worden.« Fast hätte ich die Worte laut gesagt, aber ich entschloss meinen Mund zu halten. Bevor ich wieder anfing zu frieren, zog ich mir den Pullover abermals an. Zuerst schwiegen wir alle. Dann sagte meine Mutter etwas, dass mich erstaunen ließ: „Das ist ganz allein unsere Schuld“, erklärte sie. „Jack, bitte verzeih uns. Er hat das getan, um uns zu bestrafen.“ Ich sah sie verwundert an. „Wer?“, fragte ich sie. „Es ist nichts.“, sagte mein Vater mit einem strengen Blick zu meiner Mutter. Entschuldigend senkte sie ihre Augen und starrte auf den Boden. „Was habt ihr damit zu tun?“ fragte ich. Stille. „Nun sagt schon. Ich weiß das ihr etwas wisst. Ich bin nicht blöd.“, forderte ich sie heraus. Ich war überrascht von mir selbst. Normalerweise getraute ich mich nicht mit meinen Eltern so zu reden. Ich hatte immer Angst vor den Konsequenzen gehabt. Doch das war mir in diesem Moment völlig egal. „Du wagst es so mit deinem Vater zu reden“, die Stimme meines Vaters war tief und kalt. „Ich würde nie behaupten, dass du dumm bist, Jack, trotzdem halte ich es nicht für besonders schlau, wenn du dich auf diese Leute einlässt, mein Junge.“
„Diese Leute?“, jetzt war ich so wütend, dass ich die Angst vor meinem Vater verlor, „du meinst Athanasia, du hältst sie für Abschaum, weil sie nicht von Adligen abstammt oder in einem großen Haus wohnt? Athanasia, meine Freundin! Athanasia, die mir das Leben gerettet hat! Ohne sie wäre ich tot Dad! Ich weiß nicht, was ihr mit dem Angriff zutun habt. Ich weiß nur, dass es so ist! Wie kannst du Athanasia nur so hassen. Sie hat einen deiner größten Fehler geradegerückt. Ich wäre tot, wenn sie nicht wäre!“, schrie ich meinen Vater wütend an. Ich blickte ihm tief in die Augen. Es war, als ob ich in meine Eigenen schauen würde. Nur war ich mir sicher, dass ich noch nie so finster und kalt geblickt hatte, wie mein Vater es gerade tat.
Familie
„Du gehst zu weit, mein Sohn“, sagte er. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich getan hatte. Und ich bekam wieder Angst. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Aber jetzt war es zu spät. Mein Vater würde mir nie verzeihen, dass ich zugegeben hatte, dass ich ein Mädchen liebte, das nicht seinen Wünschen entsprach. Schneller als ich reagieren konnte, hob mein Vater seinen Stock und schlug damit auf meine frischen Verletzungen auf meiner Brust. Vor lauter Schmerz schrie ich laut auf. Der Schlag war nicht hart gewesen, aber es hatte schon gereicht. Ich bekam weiche Knie und lehnte mich gegen die Wand. Dann sank ich langsam zu Boden. Ich griff mir unter den Pullover und fühlte warmes Blut. Die Wunde hatte sich geöffnet. Meine Mutter wollte zu mir eilen. Doch bevor sie bei mir war, war Athanasia aufgetaucht. Mit besorgter Miene. Wieder kniete sie sich neben mich und sagte „Ich dachte, es würde genügen.“ Dieses Mal musste sie ihre Hand nur kurz auf die Wunde legen. Bis sie sich wieder schloss. Entschuldigend blickte sie mich an. Ich nahm sie fest in den Arm, wie es meine Schmerzen zuließ. Zu gerne hätte ich sie jetzt geküsst, aber ich wusste das mein Alter ausrasten würde. „Mein Vater,“ erklärte ich ihr so leise, dass es außer uns niemand hören konnte. Dann deutete ich auf meine Brust. Sie verstand, richtete sich auf und drehte sich mit wutverzehrter Miene zu meinem Vater um. Dann deutete sie mit ihrem Finger auf ihn und schrie ihn an: „Sie! Wie können sie etwas so Dummes und Leichtsinniges tun! Jack ist schwer verletzt! Jemand wollte ihn umbringen!“
„Mein Sohn kann auf sich selbst aufpassen! Er braucht deine Hilfe nicht, du verfluchtes Höllenkind!“, mit diesen Worten gingen er und meine Mutter die Tür hinaus. Das Kinn hoch erhoben ließen sie mich zurück. Meine Mutter wirkte traurig. Aber meinen Vater scherte es nicht, dass ich fast gestorben wäre. Bis zum heutigen Tag hatte er es nicht für notwendig gehalten, sich bei mir für den Schlag gegen meine tödlichen Wunden zu entschuldigen.
Wochenende
Es war stockfinster. Langsam richtete ich mich in meinem weichen Bett auf und streckte mich ein wenig. Auf dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers, das eigentlich mir gehörte, schlief Athanasia. Ich saß auf Gregs Bett. Er war über das Wochenende nach Hause gefahren. Musste schön sein, richtige Eltern zu haben. Die ihr Kind liebten. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen. »Sie lieben mich. Nur ist das ihnen halt peinlich «, dachte ich verbittert. Aber wenigstens hatte ich Athanasia zurück. Sie hatte darauf bestanden, in der Nähe zu übernachten, dass sie mir zu Hilfe eilen konnte, sobald sich meine Wunden wieder öffnen würden. Das war nett von ihr, das weiß ich. Trotzdem wollte ich sie beschützen, nicht umgekehrt. Da kam es mir komisch vor, dass sie mir das Leben retten musste. Meine Wunden waren wieder geschlossen. Doch sie könnten bei einem Zusammenstoß jederzeit aufgehen. Währendem saß ich auf dem Bett und überlegte, ich weiß, das ist merkwürdig, ob ich wohl an diesen Verletzungen noch sterben würde und ob mein Vater dann an meinem Grab weinen würde. Vorausgesetzt, mein Vater würde sich überwinden und Geld für die Beerdigung seines Sohnes bezahlen. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klingelte mein Handy. Froh über die Gelegenheit, an etwas anderes denken zu können, stand ich auf und ging zu dem kleinen Schrank, auf dem mein Handy lag und griff danach. Athanasia war aufgewacht. Ihre braunen Haare waren zerzaust und unter ihren Augen konnte ich in dem wenigen Licht, dass von der Nachttischlampe kam, tiefe Augenringe erkennen. Wir setzten uns nebeneinander auf mein Bett, auf dem Athanasia sich aufgerichtet hatte, ich nahm den Anruf an, stellte ihn auf Lautsprecher und lauschte gebannt. Meine Mom rief an. „Jack, Schatz bist du allein?“
Mit zusammengekniffenen Augen sah ich das Handy an. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter irgendetwas gegen Athanasia sagen würde. „Na ja, könnte sie vielleicht“, begann meine Mutter. Ich seufzte entnervt. „Sprich oder ich lege auf.“, meinte ich. „Nein, Jack, es ist wichtig.“, jetzt klang sie verzweifelt. Athanasia runzelte verwirrt die Stirn. „Es stimmt. Wir, ich und dein Vater, wir haben wirklich etwas mit dem Mordversuch an dir zu tun.“, schluchzte sie. Ich hatte es schon gewusst. Doch Athanasia schien überrascht. „Es stimmt, der namenlose Massenmörder ist zurück. Er hat mich und deinen Vater zu sich gerufen. Wir hatten nicht gewusst, dass er das war. Eine ganze Familie hätten wir für ihn auslöschen müssen. Nur weil er Lust hatte. Ich weigerte mich. Und dein Vater stimmte mir dann auch zu. Doch wir konnten nicht einfach gehen. Er schrie uns hinterher, dass er dich töten würde. Ich wollte es verhindern, aber dein Vater meinte, es wäre besser, wenn du sterben würdest als wir alle drei. Dein Vater, er will nicht, dass du es weißt, aber ich kann dir keine Lügen …“, sie konnte nicht mehr weiterreden, weil sie angefangen hatte zu weinen. Mit wutverzerrter Miene starrte ich an die gegenüberliegende Wand. Dann drückte ich den Anruf weg. Von meinen Eltern wollte ich nie mehr etwas hören.
Seit einer Woche habe ich jetzt nichts mehr von meinen Eltern gehört. Das konnte mir nur recht sein.
ein gefährlicher Ausflug
Es war Montagmorgen. Ich wanderte Schulter an Schulter mit Athanasia durch den Wald. Wir gingen mit einigem Abstand hinter den anderen, welche mit auf den Ausflug gekommen waren. Athanasia hatte in den letzten Tagen alles versucht, um mich von dem Streit zwischen mir und meinen Eltern abzulenken. Nach langer Arbeit hatte sie es dann doch geschafft, mich zum Mitkommen zu überreden. Ich war entspannt, wie seit Tagen nicht mehr. Meine Narben waren zwar immer noch zu sehen und Athanasia konnte mich bisher nicht fest umarmen, aber das war auch schon alles, was von dem Mordversuch geblieben war. Wir gingen nah an einer tiefen Schlucht entlang. Ich schielte zum Abgrund hinunter. Da hörte ich ein Rascheln hinter mir im Gebüsch. »Sicher nur ein Tier «, dachte ich. Aber es raschelte erneut. Ängstlich wie ich war, drehte ich mich ruckartig um. Sodass ich Athanasia fasst umgeworfen hätte. Sie war genervt, doch ich hatte Recht gehabt. Irgendjemand folgte uns. „Wer ist da?“, fragte ich hitzig. Athanasia grub ihre Fingernägel tief in meinen Oberarm, was ziemlich schmerzhaft war. Ich blickte sie an und wollte fluchen. Aber da sah ich ihn. Den Mann, der mich fast getötet hätte. Hilfesuchend schaute ich mich in alle Richtungen um. Aber ich konnte die anderen nirgends entdecken. Verzweifelt schrie ich um Hilfe.
Der Mann kam näher. Sein Gesicht konnte ich kaum erkennen. In der Hand trug er ein Messer. Mir wurde speiübel. „Jack „, piepste Athanasia neben mir. Schützend stellte ich mich vor sie und war sofort verblüfft über mein kleines bisschen Mut. „Deine Eltern hätten mir dienen müssen. Sie wären mächtig geworden. Du wärst mächtig geworden.“, sagte der Mann. Ich schluckte. Athanasia stolperte in ihrer Aufregung über eine Baumwurzel, fiel auf den Boden und kroch nun keuchend auf ihren Hinterteil rückwärts vom Mann weg, bis sie einen Baumstamm erreichte und zitternd verharrte. Der furchteinflößende Mann versuchte mich mit seinem Messer zu verletzen. Zuerst konnte ich ausweichen. Doch dann gelang es ihm. Ich hatte nicht richtig aufgepasst. Der Mann hatte es bemerkt und die Situation ausgenutzt. Unter gruseligem Gelächter stach er sein Messer in meinen Oberschenkel. »Verdammt, mit was habe ich das verdient «, dachte ich. Mein Gesicht war schmerzverzerrt und ich schrie verzweifelt auf. Plötzlich schoss Athanasia hinter mir hervor und verlieh dem abgelenkten Mann einen heftigen Stoß. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wedelte mit dem Armen und versuchten das Gleichgewicht zu finden. Mit seinen Schuhen hatte er die Kante zum Abgrund leicht übertreten. Als ihm bewusstwurde, dass er stürzen würde, griff er verzweifelt nach mir, da ich inzwischen mühsam auf die Beine gekommen war. Ich strauchelte eine Sekunde lang. Dann rutschte der Mann ab und ich wurde von ihm mitgerissen. Und ich fiel. Immer tiefer. Und tiefer.
Voller Angst wurde mir klar, was passiert war. Der Mann hatte mich nun losgelassen. Ich versuchte mich auf den Aufprall vorzubereiten. Doch, bevor es soweit kam, packte mich etwas an meiner Schulter, krallte sich meinen Pullover und hielt mich fest. Ich dachte, es wäre ein verdorrter Zweig, der an der Felswand wächst, aber dann wäre er doch gebrochen und ich wäre wieder gefallen. Ich sah, wie der Mann unter mir weiter in die Tiefe stürzte. Bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er war tot. Nun sah ich mich nach meinem Retter um. Es war Athanasia. Aber wie konnte das sein? Von dem Klippenrand hätte sie mich unmöglich halten können. Dafür war ich schon zu weit gefallen. Athanasia schwebte. Staunend blickte ich sie an. Da stand sie. In der Luft. Unter ihr nur ein leichter Schimmer Licht, hielt sie mich mit einem Arm mühelos fest. Ihre Fähigkeiten hatten mich wieder einmal überrascht. Nun zog sie mich problemlos hoch neben sich. „Solange du dich an mir festhältst, wirst du nicht fallen“, erklärte sie. Ich hielt ihren Arm, währenddem wir gemeinsam über einen unsichtbaren Boden liefen. Die Hand hatte sie kurz auf meinen Oberschenkel gepresst, der schlagartig heilte. Bei jedem ihrer Schritte erschien unter uns ein leuchtendes, durchsichtiges Stück Fläche. Wir blickten uns tief in die Augen, dann küsste ich sie und mir wurde bewusst, dass sie mir das Leben gerettet hatte. Schon wieder. Ich spürte ihre Lippen auf meinen und dachte: »Etwas Gutes gibt es an dem Ganzen. Mein Leben kann nur noch besser werden. «
Das rote Telefon klingelt schrill. Am massiven Mahagoni-Schreibtisch unterbricht ein untersetzter Mann seine Arbeit und sieht erstaunt auf. Es ist der 8. Januar 2021 um genau 13:44 Uhr. Das Klingeln hört nicht auf. Hm, also keine Störung, denkt er und greift nach dem Hörer.
„Hallo?“ Sagt er knapp und leicht genervt. Er war gerade dabei, eine Fernsehansprache zu schreiben.
„Here is Donald, Donald John Trump, President of the United States of America“ meldet sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ja ich weiß, wer sollte sonst auf diesem Apparat direkt bei mir anrufen.“, entgegnet der russische Präsident und rollt mit den Augen. Der Blödmann geht mir auf den Sack, denkt er und spricht ruhig in die Telefonmuschel.
„Hier spricht Wladimir Wladimirowitsch Putin, , Президент Российской Федерации.“
„I need dringend deine Hilfe!“, kommt Donald sofort zur Sache.
„Ok“ atmet Wladimir in den Hörer.
„I brauche sofort Werkzeug!“
„Deshalb rufst du auf dem roten Telefon an? Ты крутешься? Ich hatte schon Panik und dachte, bei euch ist der Bürgerkrieg ausgebrochen und die Atomwaffen sind in die falschen Hände geraten.“
„So far habe ich es nicht kommen lassen, habe alles under control.“
„Ну, в конце концов,, die letzten Nachrichten aus Washington waren schon beunruhigend.“
„I say doch, no problem!“
„Хорошо, verstehe und nun rufst du an, weil du „Werkzeug“ brauchst, um den Joe Biden loszuwerden.“
„Euer Nowitschok is not bad, aber soweit bin I noch nicht.“
„Ага, was brauchst du dann?“
„In knapp two weeks ist die Präsidentschaftsübergabe im White House…“
„Да и далее?“ drängelt Putin.
„…and es wird dann auch the suitcase mit den Codes für alle US nuclear weapons übergeben.“
„Понять. Wozu brauchst du da ein Werkzeug from Russia? Habt ihr keinen Baumarkt bei euch um die Ecke?“
„I need Special-Werkzeug.“
„Извините, ich kann dir gerade nicht folgen.“
Jetzt rollt Donald im Oval Office gereizt mit den Augen. „Also the Suitcase steht bei mir im Wandtresor im Study.“
„Hm.“
„The Study is, how alle anderen Räume fest verschlossen.“
„Ach , что?“ Putin ist amüsiert.
„And ich have last week beim Golfen lost my keyring.“
„Блин, was für eine Катастрофa!“
„Yes, du sagst es! Ich habe inzwischen heimlich all Türschlösser im White House austauschen lassen. Can you dir vorstellen, what that gekostet hat?“
„Kann ich mir gut vorstellen. Weißt du, cколько Türschlösser der Kreml hat?“
„How?“
„Забудь!! Aber ich verstehe immer noch nicht, wofür du das Spezialwerkzeug brauchst?“
„In my study is a Specialschloss in the armoured door. Das kann man nicht einfach aufbohren. Dafür brauche ich einen Specialists, der das Schloss so open can, dass es keiner bemerkt and es nicht broken geht.“
„Warum rückst du nicht gleich mit der Sprache raus? Ich schicke dir sofort deinen Hausmeister Sam vorbei. Der erledigt das за две минуты, macht er nicht zum ersten Mal.“
„Thanks Wladimir, du hast my ass gerettet. By the way, das Gespräch hat nie stattgefunden.“
„Уверен, Good Night Bro, halt die Ohren steif, man sieht sich!“