Beerdigung (Textauszug aus dem Buch)
Josef steht am offenen Grab seiner lieben Freundin und schaut auf ihren Sarg hinunter. Das Loch sieht so gruselig, dunkel und unnahbar aus. Es ist nur ihr Körper, der da unten verrotten wird, sagt er sich und lässt bedächtig Erde auf das Rosenbukett hinunterrieseln. Ein kalter Schauer lässt ihn erzittern, unwillkürlich zieht er die Schultern hoch, während er den Kragen des Mantels hochschlägt. Eilends drückt er die Schaufel dem Nächsten in die Hand und zieht sich in den Schatten einer alten Eiche zurück, ein wenig abseits von der Menschenansammlung. Mit schwerem Herzen schaut er zu Maria, Thomas und Susanne, die von all den Leuten, die Käthe kannten, Beileidsbekundungen entgegennehmen. Er schluckte gegen seine Trauer an. Erst die Eltern, dann die einzige Bezugsperson. Selbst, wenn sie inzwischen erwachsen sind, wird das eine weitere Narbe in ihren Herzen hinterlassen. Ob die drei an eine höhere Macht und ein Weiterleben nach dem Tod glauben? Er schüttelt kaum merklich seinen Kopf. Wahrscheinlich nicht, selbst er glaubt nicht einmal an das Schicksal.
Im letzten Krieg in Sonthofen geboren, musste er sehr früh lernen: Vertraue nur dir und deiner eigenen Kraft. Es waren harte Zeiten mit vier Geschwistern und ohne Vater. Als Zweitältester war er für die Familie verantwortlich, da sein Bruder schnellstmöglich mit der wohlhabenden Käthe verheiratet wurde. Alle sind sie durchgekommen! Nur sein Herz trägt seitdem eine tiefe Narbe. Seine Gedanken schweifen ab in die Zeit, als er in einem Urlaub mit Käthe heimlich Zeit an der Ostsee verbracht hatte.
Die Wellen klatschten schwach an den langen Sandstrand. Es war Hochsommer, der Himmel wolkenlos, den Tag über hatten sie gebadet, viel geredet und am Strand nach den schönsten Muscheln gesucht. Nun glomm die Sonne bereits orangefarben und es kühlte merklich ab. Er fröstelte, zog die Decke über seine und ihre nackten Füße und war froh, den grünen Wollpullover an zu haben, den ihm Käthe gestrickt hatte. Ein Geschenk zum Nikolaus. Gott, wie lange war das her.
Josefs Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Du alter, sentimentaler Mann, schimpft er stumm mit sich. Er trauert schon viel zu lange um seine liebste Käthe. Warum hast du mich nur hier zurückgelassen? Aber war er denn wirklich allein? Vielleicht schaut sie von oben auf ihn herab? Sie ist auf jeden Fall im Himmel gelandet, die Gute. Schnell verlässt er den Friedhof, bevor er vor der versammelten Mannschaft in Tränen ausbricht.
Auf seinem Tisch zuhause liegt ein altes Buch aus Pergament. Blass, braunfleckig, beide Deckel leicht aufgewölbt, die Seiten mit blauen Lettern versehen. Die altdeutsche Schrift kann heutzutage keiner mehr lesen. Das Buch, der Pullover und ein paar schwarz-weiße Fotos sind alles, was ihm von ihr geblieben ist. „Meine liebste Käthe …“, lässt er den Satz unvollendet.
Am Strand von Travemünde hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Bildhübsch, jung, mit langen blonden Haaren, sonnengebräunter Haut und mit einem enganliegenden weißen Kleid, saß sie auf einem großen Handtuch und war in dieses Buch vertieft. Die lärmenden Urlauber um sich herum schien sie nicht wahrzunehmen. Er setzte sich neben sie, nicht zu nah, um aufdringlich zu wirken, aber auch nicht zu weit weg, um die Möglichkeit zu haben, sie anzusprechen.
Und das wollte er unbedingt! Eine gefühlte Ewigkeit saß er starr und beobachtete aus den Augenwinkeln, ob sich eine Gelegenheit ergab. Kurz bevor die Sonne im Wasser versank, schaute sie hoch und betrachtete verwundert die wuselnden Urlauber um sie herum. Ihre Blicke trafen sich. Jetzt oder nie, sagte er zu sich.
„Was ist das für ein interessantes Buch, das Sie so in den Bann zieht?“, fragte er.
Ihre Augen blieben an ihm hängen. Mit einer Hand schirmte sie die Augen ab und musterte ihn ein paar Sekunden lang. Klappte dann langsam das Buch zu, strich ein paar Sandkörner vom Einband und drehte sich leicht in seine Richtung.
„Das sind alte deutsche Legenden geschrieben von Richard Benz, die limitierte Vorzugsausgabe von 1910.“
Dabei lächelte sie beinahe kühl, mit der Gewissheit, dass er davon nie etwas gehört hat.
Josef schluckte und suchte krampfhaft nach einer Antwort, die nicht allzu lachhaft klang.
„Sind da drin auch die Bamberger Legenden und Sagen enthalten?“, fragte er und freute sich, doch eine brauchbare Erwiderung gefunden zu haben.
Jetzt lächelte sie freundlich über das ganze Gesicht.
Innerlich sprang sein Herz einen Salto. „Ich liebe auch Märchen und Sagen“, fügte er schnell hinzu.
„Aha, also ein Märchenprinz!“, kicherte sie.
„Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen hier wieder treffen und unsere Bücher tauschen?“
„Gern, was für eine wunderbare Idee!“ Sie stand auf, schüttelte den Sand aus ihrem Kleid, nahm das Handtuch, winkte ihm zum Abschied und lief leichtfüßig, ohne sich umzudrehen, in Richtung Dünen.
Am nächsten Tag hatte er ein passables Märchenbuch in seinem Regal gefunden und es mit ihr getauscht.
Titelbild: Buchcover von Mia Lena und Sina Land
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Buch:
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© 2022 Ingo M. Ebert – vom Team Gambio – Herausgeberin Sina Land
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