Manchmal sieht man nur den Topf

von Maria Becker

Plauderabend

Auf unseren monatlichen Plauderabend freute ich mich diesmal ganz besonders, weil ich auf die Hilfe der anderen Frauen hoffte. Deshalb fiel ich auch gleich mit der Tür ins Haus, bevor irgendein anderes Thema angesprochen wurde.

„Erzählt mir mal ein Highlight aus eurem Leben“, forderte ich die an­deren auf, während ich mal wieder viel zu viel Zucker in meinen Tee rührte.

„Warum?“, fragte Ingrid.

„Ich bin doch in der Schreibgruppe der Volkshochschule“, antwortete ich. „Diesmal sollen wir einen Text zum Stichwort ‚Highlight‘ verfas­sen und da hatte ich die Idee eure Erlebnisse aufzuschreiben.“

Als mein Blick auf Hannelore fiel, die mit traumverlorenem Blick vor sich hinlächelte, dachte ich: Oh nein, bitte erzähl DU nicht von deinen Highlights.

Ich weiß, es ist nicht schön so etwas zu sagen, aber Hannelore ist ein­fach nur trutschig. Sie kleidet sich so bieder wie meine Oma vor fünfzig Jahren, trägt zu Hause tatsächlich eine Kittelschürze und hat sich ihre weißen Haare zu einer blau schimmernden Dauerwelle legen lassen. So, wie es in meiner Kindheit für ältere Frauen Mode war. Keine sechzig­jährige Frau muss im einundzwanzigsten Jahrhundert noch so haus­backen rumlaufen. Ihr Mann Thomas ist genauso bieder wie sie, trägt Cordhosen und Flanellhemden, blüht erst dann so richtig auf, wenn er den letzten erworbenen Gartenzwerg präsentieren und endlos über die Pflege des Staudenselleries reden kann.

Dagegen blüht Hannelore auf, wenn sie endlos über ihre schon längst erwachsenen Kinder reden und die Heiligkeit der Mutterrolle preisen kann. Deshalb wusste ich genau an welches Highlight sie gerade mit seligem Lächeln dachte. Ich wollte aber keinen Text vorlesen, in dem es um Geburtswehen und geplatzte Fruchtblasen ging. Auch wollte ich nicht über Michaels ersten selbständigen Gang zum Töpfchen oder über Susannes ersten Zahn erzählen.

Als ich sah wie Hannelore sich im Sessel zurücklehnte und Luft holte, wusste ich, dass ich jedoch genau dies tun würde, wenn nicht eine von den beiden anderen sofort mit ihrem Highlight um die Ecke kam.

Mein Highlight

Es war zu spät. „Mein Highlight“, sagte Hannelore, während auf ihrem Gesicht immer noch das selige Lächeln lag, „war, als ich mit Günther Sex auf der Autobahnbrücke hatte.“

Mein Gehirn war so sehr auf den ersten Töpfchengang von Michael fixiert, dass ich noch sekundenlang den tatsächlichen Satz nicht reali­sierte, obwohl ich ihn gehört hatte. Den anderen ging es wohl wie mir, auch sie hielten noch eine Weile ihre desinteressierten Mienen bei. Dann machte es Klick und wir drei starrten Hannelore an.

„Du hattest Sex auf der Autobahnbrücke?“, fragte Claudia.

„Ja“, antwortete Hannelore in einem Ton, als wäre Sex auf der Auto­bahnbrücke so selbstverständlich wie der wöchentliche Einkauf.

„Moment mal“, sagte Ingrid. „Sex mit Günther? Ich dachte, dein Thomas wäre dein erster Mann gewesen.“

„War er auch“, sagte Hannelore.

„Du hast nach deiner Hochzeit mit einem anderen Mann geschlafen?“, fragte Claudia fassungslos.

„Ja“, antwortete Hannelore.

„Du hast deinen Mann betrogen?“, fragte Ingrid.

„Nein“, sagte Hannelore.

„Herrgott nochmal“, platzte es aus mir heraus. „Über das dämliche Töpfchen redest du wie ein Wasserfall und bei einer wirklich interes­santen Geschichte lässt du dir jedes Wort aus der Nase ziehen.“

Hannelore schaute mich unter ihren blauen Löckchen waidwund an und ihre Lippen zitterten.

„Tut mir leid“, murmelte ich entschuldigend lächelnd und war erleich­tert als sie zurück lächelte. Hätte ich sie zum Weinen gebracht, würde sie vielleicht nichts mehr erzählen. Aber gerade diesmal wollte ich alles hören.

„Wie kam es zu dem Sex auf der Autobahnbrücke?“, fragte ich in ge­schäftsmäßigem Ton. Schließlich war dies ja eher ein Arbeitsinterview und es wurde Zeit, nicht mehr nur glotzend da zu sitzen, sondern dem Gespräch mal so etwas wie Struktur zu geben.

„Welches Töpfchen?“, fragte Claudia.

„Ist doch egal“, fuhren Ingrid und ich sie an.

„Man wird ja wohl noch fragen dürfen“, sagte Claudia und verschränkte beleidigt die Arme. „Maria hat ja schließlich mit dem Topf ange­fangen.“

„Der ist aber jetzt nicht wichtig“, zischte ich.

Zum Glück fing Hannelore an zu erzählen, so dass Claudia endlich auf­hörte auf dem Töpfchen rum zu hacken.

unbekannte Hilfe

„Das war vor zwei Jahren. Mein Auto sprang nicht an. Und da kam dieser gut aussehende Mann und bot mir seine Hilfe an, konnte aber auch nichts ausrichten. Weil ich nicht genug Geld für ein Taxi dabei hatte, musste ich zu Fuß nach Hause laufen. Der junge Mann hätte mir das Taxi sogar bezahlt, hatte aber auch nicht genügend Geld dabei.“

„Junger Mann?“, unterbrach sie Claudia. „Wie alt war er denn?“

„Ich schätze Ende zwanzig“, antwortete Hannelore.

„Ende zwanzig?“, fragte Ingrid erstaunt. „Vor zwei Jahren? Da warst du achtundfünfzig.“

„Stimmt“, antwortete Hannelore wieder in einem Ton, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Er sah aus wie James Dean.“

Sofort entstand vor meinen Augen ein Bild von Hannelore, wie sie in ihrer Kittelschürze auf der Autobahnbrücke mit James Dean Sex hatte.

Photo by Thomas Griesbeck on Unsplash

„Erzähl weiter“, drängte Claudia.

„Ich sagte zu ihm, dass ich nach Hause laufen würde und er bot mir an mich zu begleiten, damit ich nicht im Dunklen alleine laufen müsse. Er war so ein höflicher junger Mann. Ich meinte, dass wir dann ja den Weg an den Schrebergärten vorbei nehmen könnten. Allein wäre mir der Weg zu einsam.“

„Du bietest einem wildfremden Mann an mit dir im Dunklen durch den Wald und an den Schrebergärten vorbei zu gehen?“, fragte ich erstaunt.

„Na“, sagte Hannelore, „auf der Sutthauser Straße hätte ich es ja nicht um 22.00 Uhr mit ihm treiben wollen.“

„Du wusstest, dass es dazu kommt?“, fragte Claudia.

„Nein“, antwortete Hannelore, „ich wusste nicht dass es dazu kommt. Aber ich wusste, dass ich wollte dass es dazu kommt.“

„Erzähl weiter“, sagte ich matt.

„Ach, da gibt es eigentlich gar nicht viel zu erzählen“, sagte Hannelore munter. „Als wir auf der Fußgängerbrücke über der Autobahn waren habe ich ihn gefragt, ob er es schon mal über einer Autobahn getrieben hat. Er lächelte. Und dann haben wir es einfach getan. Es war himm­lisch.“

„Und dann?“, fragte Claudia.

„Dann sind wir zur Straße zurück gelaufen zum Taxistand.“

„Du hattest also doch genügend Geld“, rief Ingrid.

„Ja, natürlich hatte ich genug Geld. Und wenn nicht, hätte ich den Taxi­fahrer ja auch zu Hause bezahlen können. Aber der junge Mann gefiel mir halt so gut.“

„Und zu Hause?“, fragte ich. „Was hast du da gemacht?“

„Das Essen für Thomas aufgewärmt, er kam ja von seiner Spätschicht“, antwortete Hannelore, wieder ganz Hausfrau.

„Thomas hat nichts gemerkt?“, fragte Claudia.

„Ich habe es ihm erzählt“, sagte Hannelore

„Und wie hat er reagiert?“, fragte ich perplex.

„Wie immer halt. Wir erzählen es uns ja immer wenn wir mit einem anderen geschlafen haben“, antwortete sie.

Eine Weile war es still. Wir alle mussten das erst mal verdauen. Hannelore in ihrer Kittelschürze und Thomas mit seinen Garten­zwergen erzählten sich ihre jeweiligen außerehelichen Sexerlebnisse!?

Hannelore schaute uns an. „Wir finden halt Monogamie langweilig“, sagte sie.

Ingrid fand als erste ihre Sprache wieder. „Ihr erzählt euch davon?“

„Ja, natürlich“, sagte Hannelore.

„Immer?“, fragte Ingrid.

„Ja, immer“, antwortete Hannelore. „Auch, dass er vor drei Jahren mit dir geschlafen hat. Das wolltest du doch wissen, nicht wahr?“

Claudia und mir klappte die Kinnlade runter. Ingrid sprang auf und raffte ihre Sachen zusammen. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie bockig wurde wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte.

„Ein Highlight war dein Thomas nicht“, blaffte sie Hannelore an.

„Das hat er von dir auch gesagt“, lachte Hannelore.

Ingrid stürmte aus der Wohnung und schlug laut die Haustür hinter sich zu.

„Was ist eigentlich dein Highlight?“, fragte Hannelore an mich ge­wandt.

Die Highlights meines Lebens liefen vor meinem inneren Auge ab und ich empfand sie alle einfach nur belanglos, fühlte mich irgendwie so trutschig.

„Wahrscheinlich mein erster Gang zum Töpfchen“, murmelte ich.

© 2020 Maria Becker – Titelbild: Photo by Ilona Frey on Unsplash
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