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– alle Jahre wieder

Wenn die ersten Discounter die Stollen, Lebkuchen und Co. aufbauen, haben wir meistens noch Temperaturen um die 30 Grad. Aber alle sollen wissen, dass die Weihnachtszeit als nächster großer Höhepunkt vor der Tür steht.

Spätestens aber, wenn die Schaufenster-Puppen sich in roten Dessous lasziv in den Kaufhäusern rekeln, ist es soweit. Die Vorweihnachtszeit hat begonnen!

Zur selben Zeit eröffnen die Weihnachtsmärkte ihre Tore. Was früher ein spezieller Markt war, um die winterlichen Besonderheiten an Mann und Frau zu bringen, ist heute ein großer Jahrmarkt mit glühweinseligen Familienvätern im Kreis der Kollegen, Single-Gänseschwärme mit blinkenden Weihnachtsmützen, überteuerte Bratwürstchen und heiß angepriesene lauwarme Getränke an jedem Stand. Musikalisch umrahmt wird das ganze Chaos mit einem Mix aus Weihnachtsliedern und Hütten-Gaudi.

Doch ist es wirklich so? Wie sieht es aus im Norden Deutschlands? Ich scheue weder Kosten noch Mühen, um einen objektiven Überblick zu erhalten und teste die auf jedem Weihnachtsmarkt typischen Spezialitäten und Glühweine ohne Rücksicht auf Gesundheit und Geldbeutel.

Hier ist mein Bericht.

Hannover

In der Hauptstadt der Niedersachsen fallen einem sofort die angenehme und weihnachtliche Beleuchtung des Weihnachtsmarktes in der Altstadt auf. An rund 120 festlich geschmückten Ständen werden Christbaumschmuck unter anderem aus dem Erzgebirge und dem Thüringer Wald, Holzspielsachen, kunstgewerbliche Artikel, Keramik und Haushaltswaren angeboten. Vor Ort zeigen sogar Glasbläser, Töpfer und Kerzenmacher ihr handwerkliches Geschick. Für Kinder gibt es auf dem Weihnachtsmarkt ein abwechslungsreiches Angebot. Es reicht vom Puppenspieler, Glasmalerei über eine Märchenerzählerin bis zu Kinderkarussell und Riesenrad.

Hansestadt Rostock

Währenddessen eröffnet pünktlich zum 1. Advent, wie jedes Jahr der „echte“ Weihnachtsmann zusammen mit der Märchentante und seinen vielen Gehilfen aus dem Märchenwald den größten Weihnachtsmarkt im Norden. Mit über 300 Schaustellern und Hütten verteilt sich dieser im Zentrum von Rostock über eine etwa 3,2 km lange Bummelmeile – vom Neuen Markt bis zur Fischerbastion. Auf dem Parkplatz Fischerbastion nahe dem Stadthafen, wo die großen Fahrattraktionen wie Überschlagschaukel, hauptsächlich Kinder und Jugendliche anziehen, drängeln sich skandinavische Busgruppen durch die einheimische Menge in Richtung Innenstadt. Diese erkennt man an der Schlagseite. Daher kommt wohl der ungläubig hervorgebrachte Ausruf: „Aaalter Schwede“.

Photo by (9) Rostocker Bilder Manufaktur | Facebook

Hier ist es richtig voll! Dafür ist die Auswahl an Getränken beachtlich. Heidelbeer- oder Holunder/Schlehe – Glühwein sowie für die Autofahrer und Anti-Alkoholiker mehrere heiße Säfte wie Kirsch-, Holunder- und Sanddornsaft können käuflich erworben werden. Die Preise liegen zwischen 2,- und 3,- € pro Becher plus Becherpfand.

Ein Weihnachtsmarktbesuch ohne die Original Rostocker Rauchwurst oder ein Stück Räucherfisch frisch aus dem Räucherschrank ist undenkbar.

Die Rostocker Rauchwurst gibt es nur hier. Diese Spezialität schmeckt perfekt zu einem Rostocker Pils. Für jeden Rostocker ist es eine heilige Pflicht, die heißgeräucherte Wurst mit einem eiskalten halben Liter in einem Schluck runter zu spülen. Dafür trainieren die Einheimischen das ganze Jahr über. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich schwöre!

Der Norden ruft

Seit einigen Jahren gibt es eine Finnland-Hütte am Universitätsplatz. Die jungen netten Frauen fallen vor allem durch ihre rote, farbenprächtig verzierte Tracht auf. Hier gibt es keinen Glühwein! Dafür einen „Trollentrunk“ (heißer Preiselbeersaft + Rum), einen finnischen Weihnachtspunsch mit Nüssen und Rosinen aus eigener Herstellung oder das „Nordlicht“, eine heiße Schokolade mit Finnlandia-Wodka! Dazu passt ein Elchburger.

Ja, genau, es ist ein Burger mit echtem Elchfleisch. Schmeckt hervorragend. Ich nehme den Trollentrunk dazu, mit einem doppelten Rum.

Das Nachbarland Schweden hat hier auch eine ständige Vertretung. Es gibt „Wikinger“ (Glögg + Rum), „Blonden Schweden“ (Glögg + Wodka) und den leckeren Glögg (pur) mit Broby-Pepparkakor.

Die Hütte ist immer belagert, wie bei den Wikingern so üblich. Wie ein echter Nordmann kämpfe ich mich vor zum Brett und um einen „Blonden Schweden“ zu killen. Anschließend verbrüdere ich mich mit den Schweden und nehme an der Wikinger-Weihe teil. Glögg mit viel Rum besiegelt die Freundschaft.

echte Freunde Foto (privat)

Nordeuropa kann so schön sein! Mann, gehts mir gut!!

Es kommt auf einmal eine steife Brise auf und lässt den Boulevard schwanken! Doch ich lasse mich davon nicht beirren und strebe unaufhaltsam, mir den Weg durch Menschenwogen bannend, dem Neuen Markt zu.

Das Riesenrad lass ich unter diesen Bedingungen lieber links liegen und stelle mich beim Hütt´n Gaudi unter. Lecker, herb und fruchtig genieße ich den heißen Glühwein im Gespräch mit dem netten Wirt, welcher sich gern auf einen Small Talk mit den Gästen einlässt! Wer lieber schweigend sein Heißgetränk trinken möchte, kann durch eine Scheibe das angrenzende Spiegellabyrinth beobachten, wo sich einige angetrunkene Weihnachtsmarkt-Besucher gerade die Stirn lädieren oder im beheizten Außenbereich die „Autoschlange“ eines Kinderkarussells bewundern. Da die Kinderautos gerade im Stau stehen, beschließe ich noch den Heidelbeerglühwein zu probieren.

Ob und wie er geschmeckt hat, erschließt sich meinem Erinnerungsvermögen nicht mehr. Ich kann mich nur an die besorgten Gesichter der Mitreisenden in der Straßenbahn nach Hause erinnern! Ich sah wohl nicht gut aus, denke ich! Na ja, was tut man nicht alles als Glühwein-Tester zum Wohle der Menschheit!

Kaum ist der Rausch verflogen, erinnere ich mich wieder an meine heilige Pflicht! Der Glühwein in Hamburg und Osnabrück wartet auf mich. Bei dem Gedanken stieg mir der vertraute süße aromatische Duft bereits zu Kopfe.

Hansestadt Hamburg

Hamburg ist sehr groß und man findet verschiedene Weihnachtsmärkte in der Stadt. Aber es gibt nur einen „Santa Pauli“ auf dem Spielbudenplatz. Auf Deutschlands berühmtester Vergnügungsmeile direkt neben dem Eingang zum Udo Jürgens Musical ist dieser kleine Markt etwas ganz Besonderes.

Seit 2006 befindet er sich zwischen den zwei Showbühnen und bietet statt handgestrickter Socken alles rund um die schönste Nebensache der Welt. Ob Intimschmuck, Verhüterlis, handgedrechselte Holzdildos (Holdis) oder Vibratoren in allen Varianten und Größen kann hier jeder ein ausgefallenes Geschenk erstehen.

Waldmichl & Co

Ich kann mich zwischen den Bio – Holzvibratoren „Waldmichl“, „Fuchsschwanz“ oder „Bärenzunge“ nicht entscheiden. Welcher sieht unter dem Weihnachtsbaum mit einer roten Schleife besser aus? Ich kaufe dann doch keinen und hole mir lieber noch einen Glühwein mit Schuss.

Wie jedermann weiß: Zu jedem guten Trunk sollte man ordentlich essen! Deshalb wende ich mich gleich an den nächsten Stand mit verschiedenen Würsten auf dem Bratrost! Am Grill sind ein dicker Opa und seine Mutter (oder war es seine Frau?) mächtig am Schwitzen. Eine junge hübsche Kundin beschwert sich gerade, dass auf den Werbeschildern am runden Hüttendach fünf verschiedene Würste stehen, aber nur drei auf dem Grillrost liegen! Dabei hat sie sogar noch ein Schild übersehen! Ich schau mir die sechs Werbeschilder genauer an: Krakauer, Bratwurst, Currywurst, Bratwurst, Krakauer, Currywurst. Stimmt, macht exakt fünf oder vielmehr sechs Würste! Ich kläre das Missverständnis auf. Alle Beteiligten finden es urkomisch. Ich bestelle eine Bratwurst. Sie ist kalt und schmeckt mir nicht. Da hört bei mir der Spaß auf.

Santa Pauli (Foto: privat)

Danach besuche ich den Stand des FC St. Pauli. Dort gibt es neben diversen Fanartikeln wie Flaggen, T-Shirts, Wollmützen und Weihnachtsbaumkugeln auch Glühwein. Genauso wie die derzeitige Spielstärke des Vereins, schmeckt der Glühwein zweitklassig und im Tabellenmittelfeld! Leider!

Ü-18 Tannenwald

Das absolute Highlight ist aber der nicht jugendfreie Ü-18 Tannenwald, welcher vom Kiez-Original Inkasso-Henry bewacht wird. Der lässt sich nicht lange Bitten und nimmt einem erst mal 2.50 € Eintritt ab, inklusive Verzehrbon von 2,- €.

Dafür wird in dem Zelt heftig eingeheizt! Kein Wunder, es sollen sich ja auch die spärlich bekleideten Stripperinnen und Stripper nicht erkälten!

Dem Besucher wird ein außergewöhnliches Programm geboten: eine Stripteaseshow im Stil der 50 er Jahre. Kein billiges Rumzappeln, sondern künstlerische Entblätterungszeremonien kann ein Jeder bewundern. Das spricht auch viele der anwesenden weiblichen Besucher an. Mir wird nicht nur vom Glühwein heiß. Wer sich allerdings mal eben draußen abkühlen will oder ein WC aufsuchen muss, darf sich ein zweites Mal von Henry abkassieren lassen. Für den erhaltenen Verzehrbon hole ich mir ein weiteres kühles Bier von der Kiez – Brauerei Astra! Prost! Zisch!

Wer noch nicht genug gesehen oder getrunken hat, kann ein paar Seitenstraßen weiter bis zum frühen Morgen durchmachen.

Osnabrück

Ganz anders ist Osnabrück! Was hier auffällt, sind die liebevoll geschmückten und beleuchteten Geschäfte auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt, welcher am Domplatz beginnt und sich bis zum historischen Rathausplatz erstreckt. Klein, aber fein ist der weihnachtliche Markt, wenn man sich die Menschenmassen mal wegdenkt. Nicht ohne Grund wurde der Osnabrücker Weihnachtsmarkt vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) zum schönsten Weihnachtsmarkt im Norden gekürt.

Der Vorteil von vier Reihen Wartender am Stand Weinkrüger ist, man kann in Ruhe die Angebote studieren und sich die Bemerkungen der bereits Glühwein-Trinkenden anhören und /oder visuellen und körperlichen Kontakt zu den zahlreichen Frauengruppen aufnehmen. Der Nachteil ist: Der Glühwein ist durch das ständige erneute Auffüllen nie richtig heiß und man bekommt von dem lauwarmen und viel zu süßen Getränk sofort Sodbrennen!

Wer es in dem Gedränge schafft, kann ein Erinnerungsfoto von der “Größten Weihnachtsspieldose der Welt“ (sechs Meter hoch) oder dem „Größten und schwersten Nussknacker der Welt“ machen. Er ist 6,10 m hoch, wiegt 8,5 t, hat einen Umfang von ca.6, 50 m und soll in sechs Monaten aus einem Stück geschnitzt worden sein und sogar funktionieren! Die Nüsse will ich danach mal sehen!

Was mir in Osnabrück als weiteres Kuriosum auffällt: Hier stehen die Raucher in der Hütte und die Nichtraucher draußen! Scheint aber, bei diesem Massenauflauf das Vernünftigste und Sicherste für alle Beteiligten zu sein.

Ab 19:00 Uhr verdrängen die Vereins- und Firmen- Gruppen die Familien vom Platz. Es wird lauter und man glaubt es kaum: noch voller!

Ich komme nun nicht mehr aus der Glühwein- Bude raus und bin gezwungen auszuharren. Einige Stunden später nutze ich den Aufbruch eines Kegelvereins und schließe mich an. In einer Riesen- Polonaise ohne Möglichkeit auszuscheren, gelange ich zum anderen Ende vom Domplatz.

Osnabrücker Innovation

Genau hier befindet sich eine Bude vom Förderverein der Wirtschaftsjunioren OS e.V. Da an dieser Stelle die einzige Möglichkeit ist anzuhalten, beschließe ich, die Wirtschaft in Osnabrück zu fördern und ordere einen Glühwein mit Schuss! Der freundliche junge Mann empfiehlt noch zu warten, da der Glühwein zurzeit kalt sei! Ich habe aber Durst, keine Zeit und bin gewillt, meinen Beitrag für den wirtschaftlichen Aufschwung sofort zu leisten!! Und wie es sich für einen Förderverein gehört, wurde ein Kompromiss gefunden: ½ Becher Rum mit kaltem Glühwein aufgefüllt für einen einzigen Euro ohne Pfand! Nach mir schlagen gleicherweise drei Jugendliche zu und lassen sicherheitshalber den Glühwein weg! Man soll ja nicht so viel durcheinandertrinken! Ich bin begeistert, wenn das keine Osnabrücker Innovation ist? Wo bekommt man heute noch einen Becher (0,2 l) voll 40 % Rum für einen Euro??

Zum Nachspülen begebe ich mich auf den Rathausplatz zum Historischen Weihnachtsmarkt. Geradezu, genau mitten im Weg, strategisch günstig gelegen, steht die Feuerzangenbowle – Hütte neben einer riesigen Pyramide, welche mit mannshohen Figuren jeden zum unfreiwilligen Stopp zwingen. Ich lasse mich nicht lange nötigen und kaufe einen Becher mit einer Wartezeit von nur 10 Minuten. Erstaunlich schnell, bei dem Gedränge. Es schmeckt mir erfreulich gut, nicht zu süß, würzig und mit hohem Alkoholgehalt. Vorsicht Suchtgefahr!

Osnabrück (Foto: privat)

Nach dem Besuch des Budenzaubers auf dem Heger Tor mit viel frischer Luft und Platz, lasse ich den Abend in der Lagerhalle beim „Arschkalten Wintergrillen“ mit fetziger Livemusik von der Kult- Sofaband und einem eiskalten Bier ausklingen. Was für ein feiner Tag und morgen kann ich endlich ausschlafen.

Fazit: Rostock hat nicht nur den größten Weihnachtsmarkt mit Rummel, sondern auch die umfangreichste Auswahl und den leckersten Glühwein. Santa Pauli kann mit aufregender Exklusivität und Originalität überzeugen und Osnabrück ist der historisch schönste und überfüllte Weihnachtsmarkt im Norden. Hannover ist genau der Richtige für Familien.

Dezember 2008

Titelbild: Photo by Roman Kraft on Unsplash

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Immer eine Reise wert

Vor langer, langer Zeit hatte ich eine Weiterbildung in Hannover.
Ich war im wunderschönen Dorint Hotel untergebracht. Nach dem anstrengenden Schulungstag brauchte mein Körper dringend eine Entspannung. Da es an diesem Dezembertag draußen kalt war, beschloss ich, die Hotel-Sauna zu besuchen.
Es war erst später Nachmittag. Ich war völlig allein in der Sauna. Da ich es bis dahin nicht anders kannte, benutzte ich das Dampfbad, wie mich der liebe Gott erschaffen hat. Selbstverständlich nutzte ich ein großes Handtuch zum Sitzen auf der Bank.
Nach drei Sauna-Gängen, schon ziemlich aufgeweicht, wollte ich nur noch zwei Minuten kurz in den Whirlpool springen.

Photo by Logan Stone on Unsplash

Kaum saß ich drin und streckte alle viere weit von mir, kamen zwei Damen in die Sauna. Warum auch immer, jedenfalls beschlossen sie den Saunabesuch mit dem Whirlpool zu beginnen. Sie setzten sich, welch ein Schreck, angezogen mit schwarzen Badeanzügen, zu mir in den Pool. Zum Glück blubberten die Blasen zu diesem Zeitpunkt sehr stark. Mir wurde jedenfalls noch heißer als zuvor in der Sauna. Panik kam in mir auf. Was sollte ich machen, wenn das Blubbern aufhört? Die Frauen erweckten nicht den Eindruck, als wollten sie gleich wieder gehen. Einfach cool aufstehen, ‚Auf Wiedersehen‘ sagen und nackt direkt auf der Leiter neben den beiden aus dem Pool steigen? Wenn sie dann auf einmal losschreien? Wir waren allein, was nicht alles hätte passieren können! Ich sah schon die Schlagzeile in der BILD: Perverser belästigt Frauen im Hotel!‘ oder ‚Notwehr- Mann im Whirlpool ertränkt!‘
Nein! Tapfer sitzen bleiben und den Finger ununterbrochen auf dem Blubberknopf drücken!
Ich war einer Ohnmacht nahe und völlig aufgelöst. Endlich stiegen die Damen nach einer Stunde Dauer-Klatsch aus dem Whirlpool.

Altstadt

Feuerrot und durstig beschloss ich, die Hotelbar wegen der Ladys lieber zu meiden. Deshalb ging ich vorzugsweise in die Altstadt.
Doch wo schmeckt das Bier in Hannover am besten? Mein Vater sagte immer, wo angenehme Stimmung und viele Leute sind, dort bist auch du richtig! Also trat ich in eine kleine, überfüllte Gaststätte gegenüber dem Theater. Ich fand gerade noch ein Platz ganz außen in der Ecke am Tresen. Den Lärm überschreiend bestellte ich ein Pils.
In dem Moment, als mein Bier serviert wurde, kam ein Mann rein. Er rief: „Der Bus ist da!“ Innerhalb von zwei Minuten war die Bude leer und ich saß mit einem Typen allein an der Theke. Die Stille tat auf einmal richtig weh!
Nach fünf Minuten schweigen, sprach ich den Mann in meinem Alter an. Ob er mir sagen könnte, wo denn hier in der City „die Luft brennt“? Nach einem kurzen Gespräch und zwei Bier später bat er sich an, mir die Altstadt zu zeigen. Meine Begleitung, ein Bettenverkäufer, kannte sich sehr gut aus! Sein Vater war selbst Wirt und er war in der Szene bekannt. Deshalb bekamen wir sofort in jeder noch so vollen Kneipe ein Pils und einen Schnaps vom jeweiligen Chef persönlich spendiert. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Schenken es in der Altstadt von Hannover gab, aber es waren mehr, als ich vertragen konnte!


Als wir zu guter Letzt in einer Schwulen-Bar landeten, war es an der Zeit, die Notbremse zu ziehen und ich verabschiedete mich sehr schnell und fiel völlig betrunken in das bestellte Taxi. Die Drehtür im Hotel hatte was gegen mich. Sie drehte sich mit solch einer Geschwindigkeit, dass ich anschließend auf allen vieren durch die Lobby robben musste, um zum Aufzug zu kommen. Hilfe von der grinsenden Nachtwache lehnte ich verärgert ab, denn ich hatte genug von männlicher Begleitung, schon gar nicht auf das Zimmer!

Foto:(privat): Hannover

Müsli

Am nächsten Morgen zum Frühstück hatte ich wenig Appetit und stocherte lustlos in meinem Fruchtmüsli rum. Gleichzeitig versuchte ich, die letzte Nacht zu rekapitulieren.
Der Kellner fragte mich, ob mir das Müsli nicht schmecken würde. Ich verneinte und sagte doch tatsächlich: “Es schmeckt ausgezeichnet! So etwas Gutes gibt es bei uns nicht. Wo kann man dieses Müsli kaufen?“ Dienstbeflissen machte er sich sofort auf den Weg in die Küche, um den Koch zu fragen. Welcher auch gleich angerannt kam, um mir mitzuteilen, dass es sich um eine spezielle Mischung für die Dorint Hotels handele und nur in Zehn-Kilo-Säcken zu haben sei.
Er würde mir ausnahmsweise einen Sack verkaufen oder einen angefangenen mit ca. fünf Kilogramm Rest schenken.
Bei der Vorstellung mit meinem schmerzenden Kopf und einer schweren Reisetasche zur Schulung und anschließend mit dem Zug nach Hause zu fahren, musste ich dann passen.
Nur mit viel Mühe gelang es mir, den übereifrigen Koch davon abzubringen, mir den Beutel mit einem Kurier an die Heimatadresse liefern zu lassen. Obwohl, das Gesicht meiner Familie hätte ich gern gesehen, wenn der 10 kg Sack zu Hause angekommen wäre.

Seit dieser Zeit habe ich zwar noch öfter in Hannover übernachtet, aber nie mehr im Dorint Hotel. Ich hatte Angst, dass mich dort jemand wiedererkennen könnte. Unter dem Motto: Wollen Sie jetzt das Müsli abholen?

Dezember 2000

Titelbild: (privat): Hannover Rathaus

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Die Liebe ist ein Wunderholz

Die Liebe ist ein empfindliches Pflänzchen,

braucht regelmäßig Zuwendung und ein geschütztes Plätzchen,

damit es nicht verdorrt.

Vertrauen und Gemeinsamkeiten sind wie Dünger,

lassen die Liebe wachsen und stark werden.

Geheimnisse und Freiheiten sind wie Triebe,

man muss sie etwas stutzen, damit sich nicht wild austreiben.

Gemeinsame glückliche Stunden sind wie Blüten

und Kinder wie Früchte. Wunderschön anzuschauen.

Sie sorgen dafür, dass die Liebe sich verbreitet

und auch in Zukunft die Menschen glücklich macht.

Falls die Liebe doch einmal absterben sollte,

kann der kahle Stamm jederzeit wieder austreiben.

Dazu braucht es nicht viel, ein neuer, fruchtbarer Topf und Hoffnung.

Denn die Liebe ist wie ein Wunderholz.

Oktober 2020

Titelbild: Foto (privat) Wunderholz

Erste Digitale Bundesweite Sessionseröffnung

Im ganzen Land sitzen gespannt Tausende Menschen vor den Fernsehern und Computern. Viele haben dafür extra Urlaub oder freigenommen. Sie können es kaum erwarten. Die Spannung steigt ins Unerträgliche.

Wie wird es dieses Jahr sein? Die Blicke suchen die Uhr. Gleich ist es soweit!

Schnell das Kostüm gerichtet, den Hut geradegerückt.

Wer hätte das vor einem Jahr noch gedacht? Das ist doch verrückt. Das gab es noch nie. Wird es ein Erfolg?

Die Sekunden laufen schleppend runter. Halte mein gefülltes Sektglas hoch.

Helau, Alaaf, Ahoi- die 5.Jahreszeit ist eröffnet. So fühlt es sich an: Karnevalseröffnung zu Coronazeiten.

Foto (privat) – Berliner zum Karneval

11.11.2020 11:11 Uhr

Titelbild: Foto – privat

Der Zeitspeicher

Wer kennt das nicht? Jeden Tag fragt man sich, wo ist die Zeit nur geblieben oder was für eine Zeitverschwendung?

Ich hänge wieder seit einer knappen Stunde in einer Warteschleife. Man könnte inzwischen etwas anderes machen, aber dann wird man abgelenkt oder man ist nie ganz bei der Sache. Es ist nebenbei. Mir kommt ein Gedanke.

Wenn Zeit und Universum beim Urknall aus konzentrierter Energie entstanden – dann könnte ZEIT eine Energieform sein. Betrachtet man das Universum als Maschinerie, die ihren gesamten Energieinhalt bekommen hat, als sie beim Urknall gestartet wurde. Dann wird die Maschine ´Universum´ durch asymmetrischen Energieabfluss betrieben: Denn seit dem Urknall nimmt die Energie ständig ab – weil sich das Universum ausdehnt, und wird dabei kühler. Dies ist auch ein Grund dafür, wieso der ´Zeit-Pfeil´ eine festgelegte Richtung hat.

Ja, selbst ein einzelnes Atom muss man als Maschine betrachten, die Energie abgibt. Nehmen wir an, dass die von den Atomen ständig abgegebene Energie eine abstoßende Wirkung hat – dann könnte dies die seltsame ´Dunkle Energie´ sein, welche das Universum mit zunehmender Ausbreitungsgeschwindigkeit auseinandertreibt.

Photo by Casey Horner on Unsplash

Durch die Ausbreitung des Universums verringert sich der Energieinhalt pro Volumen ständig- diesen sich dauernd verändernden Zustand kann man als imaginäre ´Gegenwart´ bezeichnen. Die Energiedifferenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen – kann man als ´vergangene Zeit´ beschreiben: ZEIT = Energie. (Vergleichbar einem Pfeil: Dieser erhält beim Abschuss die gesamte Energie. Teilt man den Pfeilflug in winzigste Gegenwart-Abschnitte ein, so wird sich der Pfeil dabei immer bewegen und gleichzeitig immer energieärmer).

Man müsste also die abgehende Energie der Atome während einer Warteschleife auffangen und speichern. Dazu brauchte man nur drei Dinge: Einen exakten Zeitmesser, einen Energiewandler (zum Einfangen der Energie und später wieder Abgabe an das Atom) sowie einen riesigen Energiespeicher. Je größer, desto besser!

Ich sehe schon die großartigen Möglichkeiten, die daraus entstehen könnten. Reisen in eine ferne Galaxie wäre ein Klacks, mit einem entsprechend großem Zeitenergiespeicher.

Wenn man noch die verschwendete Zeit anderer Leute mit einsammeln könnte? Mir wurde schwindelig. Was für eine Aussicht?

Allerdings, wie konnte ich unterscheiden, was vergeudete Zeit und was z. B. Erholung oder eine schöpferische Auszeit für andere ist? Die Energieabgabe wäre dieselbe. Kriminelle, die illegale Zeitmanipulationen vornahmen oder noch schlimmer, die Lebenszeit anderer verkürzten?

Diese Aussicht erschreckte mich so sehr, dass ich alle inzwischen gemachten Notizen augenblicklich vernichtete. Ich lege den Telefonhörer auf und setze mich erschöpft auf einen bequemen Gartenstuhl auf meiner Terrasse.

Ich schaue über den gepflegten Garten hinauf zum Himmel. Einzelne Wolken ziehen vorbei, die Sonne scheint mir wärmend ins Gesicht. Das Universum dehnt sich unaufhaltsam weiter aus. Die Menschen um mich herum hasten durch die Welt und werden dabei immer schneller alt.

Ich atme tief ein, was für eine Zeitverschwendung!

April 2020 – VHS-Kurs Schreibwerkstatt (Reizwort Speicher)

Titelbild: Photo by Greg Rakozy on Unsplash

Quelle: https://urknall-weltall-leben.de/forum/2-4-die-zeit/655-das-wesen-von-zeit-ist-energie-ein-neues-erklaerungsmodell

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Ausreichend

Ausreichend Essen und Trinken,

ausreichend Bewegung und Schlaf,

ausreichend Zärtlichkeit und Liebe,

ausreichend Licht und Schatten,

ausreichend Arbeit und Gehalt,

ausreichend Freizeit und Erholung,

ausreichend Platz und Freiheit,

ausreichend Kunst und Kultur,

ausreichend Zeit und Geduld,

ausreichend Bildung und Information,

ausreichend Gesundheit und Geborgenheit,

ausreichend medizinische Versorgung und Pflege,

ausreichend Mindestabstand und soziale Kontakte,

ausreichend Masken und Luft zum Atmen.

Wieviel ist ausreichend?

November  2020

Titelbild : Photo by Karim MANJRA on Unsplash

Ja, es gibt sie: Die Liebe auf den ersten Blick.

Vor ungefähr zehn Jahren sah ich sie zum ersten Mal und war sofort verliebt. Zusammen mit Freunden hatten wir eine Kanutour unternommen und der Tag sollte mit einem gemütlichen Grillabend würdig beendet werden. Die Dame saß auf der Couch im Wohnzimmer und würdigte mich keines Blickes. Es hatte den Anschein, als würde sie der Trubel um sie herum gar nicht interessieren. Sie rührte kein Stück Fleisch an und trinken sah ich sie auch nicht.

Ich wagte es nicht sie anzusprechen oder nur in ihre Nähe zu kommen. Schließlich war ich verheiratet und sie lebte mit ihrer Familie in einem schmucken Reihenhaus. Ihr Name ist Sonja. Sonja von…. irgendeiner Burg. Aha, dachte ich, eine adlige, kühle Dame. Obwohl die Lady genau wusste, wie ihre Ausstrahlung auf ihre Mitmenschen wirkte, hielt sie sich weiterhin vornehm zurück und beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Ab und zu gähnte sie gelangweilt, während die untergehende Sonne ein rötliches Funkeln auf ihr feines, zartes Haar zauberte. Wow, was für eine Prinzessin!

Ihr Körper war nicht schlank, eher etwas rundlich, was das Weibliche an ihr noch Betonte. Ja, ich liebte sie sofort. Ich ließ es langsam angehen und gab ihr die Zeit, sich an mich zu gewöhnen. Nach einem halben Jahr begrüßte sie mich schon freundlich, wenn ich zu Besuch kam. Ich war überhaupt nicht aufdringlich oder vorlaut. Ihr schien das zu gefallen.

Nach einem weiteren halben Jahr, ich hatte mich inzwischen von meiner Frau getrennt, zogen wir endlich zusammen. Am Anfang war es für mich schon ungewohnt, auf ihre speziellen Bedürfnisse einzugehen. Sie zeigte mir klar und schmerzhaft deutlich, was sie mochte und was nicht. Auch hatte sie einen erlesenen Geschmack, nicht alles mundete ihr. Immerhin konnte ich ab und zu mit ihr kuscheln. Das Bett teilten wir sowieso schon.

Foto (privat) : Sonja

Es ist so schön, nach Hause zu kommen, wenn jemand wartet und einen zärtlich begrüßt. Die kühle Dame von früher gibt es nicht mehr. Ich habe ihr Vertrauen gewonnen. Wir sind zusammen eine neue glückliche Familie. Ich kann mir heute ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Wenn wir am Abend zusammen beim Fernsehen auf der Couch sitzen und ich sie zärtlich hinter dem Ohr graule, schnurrt sie glücklich. Ich liebe nur einen Menschen mehr als unsere Scottish Fold Katze Sonja, meine Ehefrau Irina, welche die Katzendame mit in die Ehe gebracht hat.

Ingo Ebert – VHS – Kurs November 2019 (Reizwort Katze)

Titelbild: Photo by Kelly Sikkema on Unsplash

© 2020 Ingo M. Ebert
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Heute ist mein Tag

Ich wache auf. Es ist dunkel und still. Wie in einem Sarg, denke ich. Ich bin allein, ganz allein. Ich liege auf meiner Pritsche und allmählich kann ich den Raum um mich herum erkennen. Alles befindet sich an seinem Platz, nichts ist verändert. Der spärlich eingerichtete Raum besitzt kein Fenster, nur eine Tür, kaum zu erahnen. Sie ist massiv und fest verschlossen. Ich erkenne meine Arbeitsgeräte an der Wand, einen Spind und den Kühlschrank im diffusen Licht der Leuchtdioden meines Laptops. Meine Augen sind an die Dunkelheit gewöhnt. In letzter Zeit halte ich mich nur im noch im Dunkeln auf, Tageslicht habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Es lässt meine Augen schmerzen. Mein Leben ist die Nacht. Ich bin der Letzte meiner Sorte, ein Dinosaurier unter den Säugetieren. Ich bin im besten Alter, mein Körper ist gesund und trainiert. Meine Muskeln zeichnen sich stahlhart unter meinem enggeschnittenen weißen Hemd ab. Trotzdem fühle ich mich alt, müde und verbraucht. Ich werde sterben. Heute. Weil ich es so will. Es ist allein meine Entscheidung.

Nach dem tiefen traumlosen Schlaf fühle ich mich traurig, unendlich traurig. Wie ein großes, schweres Ungeheuer hat mich die Traurigkeit gepackt, schnürt mir die Luft ab. Ich habe zum ersten Mal in meinen Leben Angst. Bisher kannte ich keine Angst. Ich war ein eiskalter Killer. Angst macht einen schwach und verwundbar. Regelmäßiges, hartes Training, klare Regeln, keine Kompromisse, überirdische Reflexe und eine schnelle Auffassungsgabe ließen mich zur Nummer 1 aufsteigen. Ich habe keinen Namen, keine Freunde oder Bekannte, kein Mensch auf dieser Welt interessiert sich für mich. Ich bin ein Niemand. Nein das stimmt nicht! Gerade weil ich die Nummer 1 bin, ist die ganze Welt hinter mir her und diese Verbrecher werden nicht eher ruhen, bis sie mich zur Strecke gebracht haben. Viele versuchten es, aber es ist keinem gelungen, sie waren nicht gut genug gewesen. Ich hörte auf die Versager zu zählen und kann mich an keine Gesichter erinnern. Sie waren alle jung. Diese Killer dachten, wenn sie mich töten, dann sind sie selbst die absolute Nummer 1. Sie waren bislang nicht perfekt und mussten noch viel lernen.

Ich hatte in meiner Jugend Glück gehabt. Nach meiner Spezialausbildung in der Armee zum Einzelkämpfer, wurde ich auf meiner Reise durch Amerika vom CIA angesprochen, ob ich mich um einen Spezialagenten der Russen kümmern könnte. Ich verlangte viel Geld. Richtig viel Kohle, und trotzdem bekam ich die Arbeit. Diesen ersten Job erledigte ich so sauber und unglaublich perfekt, dass ich mich um weitere Beschäftigungen nicht mehr zu kümmern brauchte. Regierungen und Konzerne aus der ganzen Welt boten mir Unsummen für einen Kopf. Ich konnte es mir leisten, mir meine Aufträge auszusuchen.

Ich war ein Meister der Täuschung und Tarnung. In den größten Metropolen der Welt war ich zu Hause und fiel als weißer Mann nicht auf. Mein bürgerlicher Name ging verloren, mein Aussehen wechselte wie meine schwarzen, maßgeschneiderten Anzüge. Ich lieferte pünktlich ab und war die Nummer 1. Damit begann die Jagd auf mich. Ich zog mich in die Unterwelt der Großstädte zurück und ging nach Europa. Hier kannte ich mich am besten aus.

Ein zur Ruhe setzen kam für mich nicht in Frage, das konnte ich mir nicht vorstellen. Die Jagd auf mich war ein Spiel, es zog mich in seinen Bann. Der Meister ließ die Lehrlinge bluten. Doch irgendwann wurde es lästig. Ich nahm schon lange keine Aufträge mehr an und zog mich noch weiter zurück in die Dunkelheit der unterirdischen Kanäle und Katakomben der Städte. Ich wurde zum Nachtmenschen. Meine Augen gewöhnten sich immer mehr an die ewige Dunkelheit. Doch das machte die Suchenden noch rasender und unvorsichtiger. Ich kannte inzwischen jeden unterirdischen Bunker, jeden Abwasserkanal und jedes Loch in Paris und Berlin. Sie hatten hier unten keine Chance gegen mich. Doch die Welt hat sich inzwischen verändert. Die Branche wandelt sich. Jetzt morden Internetseiten, ferngesteuerte Hightech-Drohnen und Kampfroboter. Schneller, billiger und effektiver. Fachkräfte wie ich, werden nicht mehr gebraucht.

Photo by William Daigneault on Unsplash

Langsam setze ich mich auf den Rand der Pritsche. Ich bin angezogen, nur die Waffe und das Jackett habe ich abgelegt. In Gedanken gehe ich noch einmal alles durch: die erfolgte Kontaktaufnahme mit mir, der vereinbarte Treffpunkt und der angeblich letzte Auftrag. Ja, es ist der allerletzte Auftrag. Ich habe ihn bewusst angenommen, obwohl ich die Falle sofort witterte.   

Am frühen Morgen soll ich nach oben kommen. Ich lache laut. Hierher hat er sich nicht getraut, ich mache ihnen immer noch Angst.

Voll konzentriert stehe ich auf und ziehe mich an, zuerst die schwarzen feinen Lederschuhe, stecke meine mattschwarze Magnum Research Desert Eagle in das Schulterhalfter. Danach binde ich den schwarzen Seidenschlips um und schlüpfe zuletzt in das feine schwarze Jackett. Streiche mir mit der rechten Hand die schwarzen Haare glatt. Hunger oder Durst verspüre ich nicht. Es wird Zeit, sicher wartet schon jemand da oben auf mich. Ich öffne die schwere Tür leicht und geräuschlos. Ohne mich umzudrehen, gehe ich den Schacht mit den vielen silberglänzenden Rohren an der Decke entlang in Richtung Ausgang. Ich befinde mich direkt unter einem großen Wohnblock am Rande von Berlin. Dann steige ich die Kellertreppe hinauf, das Haus steht leer. Die Sonne geht gerade auf, leichter Nebel liegt über den Rasen vor dem Häuserblock. Ein altes Kettenkarussell steht verloren zwischen dem Block und den weiten Wiesen. Ich denke: Was macht ein Kettenkarussell hier in dieser trostlosen Einöde? Das gehört zur Falle, meldet sich mein Unterbewusstsein.

Kein Mensch ist zu sehen, kein Vogel, nichts. Es wirkt unwirklich, wie in einem schlechten Film. Ich muss die Augen zusammenkneifen, denn meine Sonnenbrille habe ich nicht mitgenommen. Ich spüre, es ist gleich soweit. Der Feigling wird mich aus seinem Versteck abknallen, natürlich von vorn, in den Rücken ist unehrenhaft für die zukünftige Nummer 1.

Ich schaue mich langsam und aufmerksam um. Es ist nichts Interessantes zu sehen. Dabei spüre ich körperlich den Lauf einer Waffe auf mich gerichtet. Was für ein Waschlappen! Traut sich nicht einmal heraus, Mann gegen Mann. Links von mir steht das Karussell und wirft Schatten auf meine gemarterten Augen. Hinter mir schaut der graue mehrstöckige Wohnblock mit seinen leeren schwarzen Fensteraugen wie ich, über die bunten Blumenwiesen zum wolkenlosen blauen Horizont. Was für ein wunderschöner Sommermorgen. Ich bin jetzt ruhig und spüre Erleichterung, ja sogar Freude. Ich erwarte den erlösenden Tod. Heute ist mein Tag!

Ich wache auf. Es ist dunkel und still. Neben mir atmet meine Frau leise ein und aus. Ich hole tief Luft. Die Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf, was für ein Traum!

Ingo Ebert – Mai 2019 – VHS -Kurs (Kellertreppe)

Titelbild: Kohlezeichnung von Andrea Schramek @andiart

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Das blaue Auge

Wie ein blaues Auge meine Abiturnoten verbesserte

Dank meiner engagierten Mutter und meines Berufswunsches konnte ich mein Abitur in der Klosterschule Rossleben machen. Das war für mich keine Selbstverständlichkeit, denn die Erweiterte Oberschule, J.W. Goethe, war eine elitäre Internatsschule in der DDR. Meine Mutter war nur eine einfache Erzieherin und mein Vater Kraftfahrer. Doch fand sie die richtigen Worte, um die Schulbehörde des Kreises zu überzeugen. Ich sage nur: die Führungsrolle des Proletariats! So zog ich mit vierzehn Lebensjahren in das Schulinternat nach Rossleben, zusammen mit vier weiteren Jungen meines Alters in einem Zimmer. Es waren die vier schönsten, aufregendsten und intensivsten Jahre meiner Jugend.

Das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung, das durch ein riesiges Kalibergwerk geprägt wurde, war distanziert. Man ging sich aus dem Weg. Wir waren die zukünftige Intelligenz unseres Landes und entsprechend hochnäsig. Berührungen mit den Bauern- und Schachtarbeiter- Kindern gab es nur bei Kino, Schwimmbad oder Disco-Besuchen. Kleine Reibereien blieben nicht aus. Aber es gab auch positive Ausnahmen, wie z. B. die Tanzstunden mit den gleichaltrigen Dorfschönheiten.

Es war im letzten halben Jahr meiner Schulzeit. Die Abitur-Prüfungen hatten noch nicht begonnen. Im Rahmen unserer schulischen Ausbildung durften wir einmal in der Woche mit der Schachtbahn zum Kalibergwerk fahren. Dort bekamen wir praktischen Unterricht, in dem wir in der laufenden Produktion irgendwelche Hilfsarbeiten machen durften. Für uns war es eine Abwechslung vom Schulalltag und vor allem vom drögen Internatsessen. Die Kantine im Schacht war für uns ein 5-Sterne-Restaurant. Eine riesige Auswahl und die Preise waren staatlich subventioniert, sodass wir hier mit unserem kleinen Taschengeld fürstlich speisen konnten.

Eines Tages fuhren wir wieder einmal hoch zum Kalibergwerk. Es thronte wie eine mächtige Burg über dem Dorf. Zusammen mit den Schülern nutzten auch die Lehrlinge und Arbeiter des Schachtes diese Bahn. Ein Junge aus dem Dorf ärgerte unsere Mädels. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, was es war. Jedenfalls war es ausreichend, dass ich mich schützend vor die Mädchen stellte und dem frechen Kerl einen leichten Faustschlag ins Gesicht verpasste. Nun war er wütend und wollte mich mit gesengtem Kopf zu Boden stoßen. Ich wich schnell aus und verpasste ihm dabei einen sehenswerten Aufwärtshaken. Meine Boxausbildung hatte sich gelohnt. Das setzte ihn außer Gefecht. Nun war Ruhe im Zug.

Photo by Franco Antonio Giovanella on Unsplash

Diese Geschichte sprach sich natürlich schnell rum. Ein Freund kam später zu mir, er hatte früher in Rossleben gewohnt. Er erzählte mir, dass ich dem jüngsten Spross, einer als streitsüchtig bekannten Sippe, ein wunderschönes blaues Auge verpasst hatte. Alle seine sieben älteren Brüder hätten bereits Haftstrafen hinter sich wegen Körperverletzungen und Messerstechereien und warteten sicher nun auf mich, um es mir heimzuzahlen. Ich sollte mich vorsichtshalber mindestens das nächste halbe Jahr nicht mehr im Dorf blicken lassen. Mit sieben Halunken auf einmal wollte ich mich nicht schlagen, somit beherzigte ich den gut gemeinten Rat und hielt mich ab sofort nur noch auf dem Schulgelände auf. Doch da waren die Freizeitaktivitäten sehr beschränkt. Also nutzte ich die Zeit, um mich intensiv auf mein Abitur vorzubereiten. Ich gebe zu, ich hätte schon gern was anderes getan, z. B. ins Schwimmbad oder ins Kino gehen. Aber die Aussicht auf ein schmerzhaftes Ende danach, ließ mich dann doch zurückschrecken. Also las ich weiter fleißig meine Bücher. Die Abiturprüfungen waren auf einmal gar nicht so schlimm. Und wenn ich meine mündliche Musikprüfung nicht grandios vergeigt hätte, wäre mein Zensurendurchschnitt von 1,8 noch besser gewesen.

Das halbe Jahr war endlich rum und zur Feier des Tages und der bestandenen Prüfungen ging ich, wenn auch mit etwas mulmigem Gefühl, zur Dorfdisco. Und Ihr ahnt es schon, wer fing mich noch an der Eingangstür ab? Zwei der Brüder, mit doppelt so breiten Schultern und zwei Köpfe größer als ich.

„Bist Du der Typ, der unserem kleinen Bruder ein Veilchen verpasst hat?“ lautete die unmissverständliche Frage. Leugnen und/oder Flucht waren unmöglich. Sie musterten mich streng von oben bis unten. Was blieb mir anderes übrig?

Ich streckte mich, so hoch ich konnte. Holte tief Luft und stieß hervor: „Ja, das war ich!“ Da grinsten Beide über das ganze Gesicht, einer schlug mir mit seiner Pranke auf die Schulter und sagte: „Das war richtig gut, hat der freche Rotzlöffel mal eine Lektion bekommen. Komm, wir geben Dir ein Bier aus.“ Meine Erleichterung könnt Ihr Euch vorstellen. Und das Beste, seit diesem Abend waren alle anderen streitsüchtigen Dorfburschen auf einmal sehr freundlich zu mir. Wie man sich so in den Menschen irren kann?

Ingo Ebert   VHS Schreibwerkstatt Dezember 2019 (Reizwort Auge)

Titelfoto: Black eye © MarkFGD – www.fotolia.de

© 2020 Ingo M. Ebert
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