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Allgemein

Homeoffice – Gedanken

Mitten in der Nacht hochgeschreckt,

die Gedanken kreisen in einer Endlosschleife.

Nach dem Hellwerden ächzend aus dem Bett gequält.

Trotzdem die Pelle angezogen und meine Runde gelaufen.

Foto: Laufschuhe (privat)

Die Beine kannten den Weg,

neue Bestmarke, völlige Erschöpfung, Kopf ist leer.

Ein Schaumbad entspannt die Glieder,

der heiße Kaffee weckt die Lebensgeister.

Foto: Schaumbad (privat)

Die Sonne kämpft sich durch die grauen Wolken,

Zeit die nie vergeht, eine Melodie in meinem Kopf.

Instagram, Facebook, WhatsApp und Teams

sind nicht deine Freunde!

Foto: Kaffee am Morgen (privat)

Wann kommt meine systemrelevante Frau nach Hause?

Ich möchte ihr die wunderschöne Welt da draußen zeigen!

Titelbild: Sutthausen mit Blick auf den Teutoburger Wald (privat)

© 2021 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Die Wartburg

Foto: Die Wartburg bei Eisenach (privat)

Als landgräflicher Hauptsitz im 12. Jahrhundert errichtet

streckst du deine Zinnen stolz in die Wolken,

hoch über dem Thüringer Wald, wie uns berichtet.

Wehrhafte Festung und prächtige Residenz lässt grüßen,

die Heilige Elisabeth hielt ihre schützende Hand über das arme Volk

zu deinen Füßen.

Luther Zimmer auf der Wartburg
Foto: Luther Zimmer (privat)

Martin Luther hierher verbannt, übersetzte das Neue Testament

und warf ein Tintenfass nach dem Teufel, es zerschellte an der Wand.

Junge Burschen zogen im Jahre 1817 zu dir hinauf, zu einem Fest,

mit schwarz rot golden Fahnen in der Hand.

Ehrfurchtsvoll verneige ich mich, Du UNESCO Welterbe,

weit über die Grenzen des Landes bekannt.

Januar 2020

Titelbild: Ingo M. Ebert (privat) – Wartburg bei Eisenach

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Mein Leben als Reiseleiter

Es gibt so viele Arten von Reiseleitern, wie es Reisearten gibt. Ich möchte aus eigener Erfahrung das Leben einer Busreiseleitung vorstellen. Über die Freuden eines Reiseleiters von Pauschal- und Flugreisen hat man in letzter Zeit schon genug im Fernsehen gesehen, Stichwort: Hotel-Tester und Co. Deshalb möchte ich darauf nicht weiter eingehen.

Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, die Reiseleiter haben einen Traumjob arbeiten, wo andere Urlaub machen. Aber so einfach ist das nicht. Sicher gibt es auch schöne Stunden im Leben eines Reiseleiters bei Busreisen, wenn das obligatorische Trinkgeld am Ende der Fahrt verteilt wird oder wenn man seinen Traumpartner für die Woche gefunden hat!

Die Busreise

Doch fangen wir von vorne an, die Begrüßung der Busgäste beim Einstieg am Heimatort oder auf einen der vielen Zustiege, den zentralen Busbahnhöfen und Autobahn- Raststätten auf dem Weg zum Ziel der Reise. Meist früh am Morgen darf man freundlich lächelnd auf sich allein gestellt die riesigen und schweren Schrankkoffer der Reisenden im Bauch des Megaliners verstauen. Genau in diesen Momenten ist der Busfahrer urplötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Foto: Wolters Touristik (wolters-bus.de)

Dann werden die Reisedokumente kontrolliert. Anschließend die bereits sitzenden Gäste erneut umgesetzt, weil der neu Eingetroffene ein steifes linkes Bein hat und nur bis zu zwei Reihen hinter dem Fahrer sitzen kann. Nach dem zwanzigsten Halt und völlig durchgeschwitzt werden nun alle Kunden an Bord im Namen des Busreiseveranstalters begrüßt und mit den wichtigsten Verhaltensregeln vertraut gemacht: 1. Der Bus hat zwei Ein- bzw. Ausgänge vorn und hinten. 2. Die Toilette im Bus ist defekt und wir werden deshalb alle zwei Stunden auf Rastplätzen, wo es meistens auch sanitäre Anlagen gibt, anhalten. 3. Während der Fahrt nicht rauchen, essen, trinken oder laut sein. 4. Aus Sicherheitsgründen müssen alle angeschnallt sein und unter keinen Umständen darf während der Fahrt aufgestanden werden. 5. Der geplante Reiseablauf ist heilig und darf niemals, niemals verändert oder angepasst werden. 6. Das Wichtigste: Während der Fahrt weder den Fahrer noch den Reiseleiter ansprechen!

Nach dieser Ansprache hat man zumindest bis zur ersten Rast seine Ruhe.

Bei der Ankunft am Reiseziel hat leider jeder Reiseleiter das Problem mit den Sonderwünschen der Gäste und dem garantiert falsch gebuchten Zimmer im Hotel. Während manche Gäste noch wie aufgescheuchte Hühner gackernd durch die Hotellobby irren, werden schon die ersten Zimmer reklamiert: Die Aussicht aus dem Fenster zum Hinterhof ist unzumutbar. Das Zimmer auf der Straßenseite ist zu laut. Ein Zimmer im Erdgeschoß ist zu unsicher, da kann man in der Nacht ausgeraubt werden. Das Zimmer in der 2. Etage ohne Fahrstuhl ist eine Zumutung für einen älteren Menschen. Das Zimmer hat nur eine Duschkabine. Eine Badewanne ist zu gefährlich und nicht mehr zeitgemäß. Die Klimaanlage ist zu kühl und viel zu laut. Ein Zimmer ohne Klimaanlage ist in diesen Regionen eine Zumutung.

Zum Glück sind bei Busreisen Hotels mit Pool oder eigenem Strand eher selten und so hat schon nach zwei Stunden jeder sein Zimmer ohne Meerblick bezogen. Dank der Mobilität sind die Absteigen meistens in Randlage von Städten oder in Gewerbegebieten angesiedelt, was die Aufsicht und die Kontrolle der Gäste zusätzlich begünstigt. Die obligatorischen Zuspätkommer bei Abfahrten lassen sich aber trotzdem nicht vermeiden.

Am Zielort und bei den angebotenen Ausflügen ist die Reiseleitung deswegen ständig bemüht, den aufgeregten Haufen zusammenzuhalten und an riesigen Schlangen vorbei in irgendwelche Museen zu schleusen oder zu Wein-, Käse- oder Süßigkeiten- Verkostungen zu bringen. Wobei die letzteren Orte für den ohnehin schmalen Geldbeutel des Reiseleiters eine Oase sind, denn für jeden herangefahrenen „potenziellen Käufer“ gibt es eine „Kopfprämie“ und einen Präsentkorb.

Hat man endlich seine Gruppe soweit erzogen, dass man sich mit ihnen auch auf etwas belebtere Plätze trauen kann, machen einem die Einheimischen Probleme. Nein, ich meine jetzt nicht die zahlreichen Trickdiebe oder Wegelagerer in Form von Gastronomie und Polizei, welche die Gruppe immer wieder aufscheuchen und für stundenlange Diskussionen zum Thema Menschenrechte und EU-Erweiterung führen. Sondern es ist die einheimische Touristenindustrie mit ihren undurchschaubaren Öffnungszeiten, Sonderbestimmungen und Veranstaltungen, welche sich innerhalb einer Woche komplett ändern können und somit jeden geplanten Reiseverlauf zum Scheitern verurteilen.

Herausforderungen

So kann es schon mal passieren, dass eine Reisegruppe vor verschlossenen Türen steht, weil das Kloster eine Woche früher Ferien macht. Die Prozession mit der Heiligen Maria schon vorbei ist, weil der Veranstaltungskalender nach dem Druck korrigiert wurde. Oder nur Busse mit einer bestimmten Höhe, Maximalgewicht oder heller Lackierung die Brücke zum Burgschloss befahren dürfen.

Dann heißt es improvisieren und sich nicht von den sicher gut gemeinten Vorschlägen der Reisegruppe beirren lassen. Ein paar Beispiele gewünscht?

Das Kloster ist zu? Aber die Klosterschenke ist doch offen. Freibier!

Keine Prozession, dann machen wir unsere eigne. Wer trägt die Heilige Maria?

Der Bus ist zu schwer? Dann steigen wir alle einfach aus oder halten die Luft an.

Der Bus ist zu hoch? Wir lassen die Luft aus den Reifen oder wir schneiden das Dach ab, dann haben wir ein Cabrio!

Wir sind schon so lange unterwegs, können wir nicht die paar Schritte zum Klosterberg hochlaufen? Darauf habe ich mich tatsächlich eingelassen.

Mein Fehler

Der kurze Fußweg entpuppte sich als ein vier Stunden Aufstieg quer durch den Urwald. Oben angekommen sahen wir im Nebel nur den unteren Teil eines Funkturms. Ich konnte mir auch nicht erklären, wohin das Kloster auf einmal verschwunden war. Der fünfstündige Abstieg bei nun stockfinsterer Nacht war jedoch noch schlimmer. Auf dem Marsch des Grauens zum Parkplatz zurück, haben wir trotz Wassermangels und „schweren Verletzungen“ keinen zurückgelassen. Das wir deshalb zu spät zum Abendessen ins Hotel gekommen sind und nichts mehr bekommen haben, war nicht meine Schuld, oder? Dabei hatten diesmal keine einheimischen Witzbolde die Wanderschilder verdreht, denn es waren auf unseren unbefestigten Waldpfaden, die wir gefunden hatten, erst gar keine vorhanden. Eine Navigationsapp gab es damals noch nicht. Jedenfalls betreue ich seitdem auch keine Wanderreisen mehr!

Foto: Kloster Kreuzberg (privat)

Fix und fertig, knapp dem Tode entkommen lag ich danach auf dem Bett, als es an meiner Zimmertür klopfte! Ich quälte mich hoch und dachte, mich trifft der Schlag, als ein Teil der Reisegruppe davorstand. Wollten Sie sich jetzt etwa schon beschweren, schoss es mir durch den Kopf.

Nein, weit gefehlt! Laut Reiseplan wäre ab 22:00 Uhr Tanz im Saal des Hotels. Die Räumlichkeit wäre aber nicht so einfach auffindbar. Vor einer halben Stunde wollten sie noch sterben und keinen Schritt mehr gehen und nun eine kesse Sohle aufs Parkett legen? Völlig fassungslos starrte ich sie an. Es sei schließlich auch im Reisepreis enthalten, bekam ich zu hören.

Kopfschüttelnd und die letzten Kräfte mobilisierend, wankte ich auf meinen riesigen Blasen voraus, um den Herrschaften den Weg zum Saal zu zeigen.

Egal wie sich ein Reiseleiter selbst fühlt, er muss immer ansprechbar sein. Er kümmert sich um alle Wehwehchen seiner Gäste persönlich. Angefangen bei einem eingeklemmten Nervus ischiadicus bis hin zu den vergessenen Herztropfen. Selbstverständlich ist er auch verantwortlich für das schlechte Fernsehprogramm, für das Wetter und für den Stau auf der Autobahn.

Aber die absolute Krönung für jeden Reiseleiter ist, wenn man am Pfingstsamstag vor achtzig Leuten steht und erklären muss, dass die bezahlte und schon seit Monaten ausgebuchte Reise nach Paris nicht stattfinden kann, weil der Chef vergessen hat, den Bus zu bestellen. Diesen Aufruhr kann man nicht beschreiben. Wegen der Zensur verzichte ich auf die Wiedergabe der Schimpfwörter, welche mir damals an den Kopf geworfen wurden.

Nachdem ich diesen dunkelsten aller Tage überlebt hatte, habe ich beschlossen, keine Busreisen mehr zu begleiten. Übrigens, mein Ex- Chef sucht noch einen Reiseleiter! Hätte jemand Interesse?

Oktober 2008

Titelbild: Ingo M. Ebert (privat) – Funkturm auf dem Kreuzberg/Rhön

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Mein Rostock

Ich weine stumm, mein Herz schreit laut.

Meine Tränen rinnen unaufhaltsam zu einem Meer.

Meine Sehnsucht tut weh,

der Druck auf die Brust unendlich, das Atmen fällt schwer.

Rauschen im Ohr. Ich spüre nichts.

Da ist keine Hoffnung mehr.

Das ich durch deine Straßen schritt,

ist viel zu lange schon her.

Du hast mich groß und stark gemacht,

nun fühle ich mich so unendlich leer.

Noch ist mein Stolz nicht gebrochen,

doch ich vermisse dich so sehr!

Mein Rostock.

Januar 2021

Titelbild: © 2020 Rostocker Bildermanufaktur Rostocker Bilder Manufaktur – Startseite | Facebook

© 2021 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Albtraum Tiefgarage

Draußen ist es hell. Die Woche hatte ganz normal begonnen. Ich muss heute nicht zur Arbeit, habe frei, keine Termine.

Ich gehe ohne Jacke in die Tiefgarage unseres Hauses, wahrscheinlich wollte ich etwas aus dem Auto holen. Auf dem hinteren Parkplatz steht mein weißes Cabrio. Es müsste mal wieder gewaschen werden. Meine Gedanken schweifen ab. Auf dem weißen Lack sieht man jedes Staubkörnchen. Wie ich das hasse.

Inzwischen bin ich bei dem Auto angekommen und greife mit der linken Hand nach der Fahrertür. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein kleines schwarzes Teil so groß wie eine Spraydosenkappe unter das Fahrzeug rollen. Ich denke, hast du die Kappe vom Imprägnierspray für das Cabrio-Verdeck hier liegen lassen?

Foto: privat

Ich bücke mich, um unter das Auto zu greifen, als mich eine sanfte Gewalt erfasst und einige Meter nach hinten taumeln lässt. Vor Schreck gehe ich in die Knie. Was war das? Ich starre fassungslos aus vier Metern Abstand unter das Auto. Da ist nichts zu erkennen, sieht aus wie immer. Der Druck ist auch weg.

Das kann ich mir nicht einbilden, oder?

Jetzt ist mein Kampfgeist geweckt. Trotzig denke ich: Na warte, wollen wir doch mal sehen, wer hier was zu melden hat.

Sicherheitshalber krieche ich auf allen vieren entschlossen, aber langsam auf mein Auto zu. Den Blick dabei starr und aufmerksam nach vorn gerichtet. Dort ist immer noch nichts zu sehen. Niemand hält mich auf.

Ich erreiche das verschmutzte Vorderrad. Halte mich mit der Rechten am Reifen und packe blitzschnell mit der linken Hand in das Nichts unter den Wagen. Sie prallt unerwartet auf einen unsichtbaren Widerstand, so als greife ich in eine gespannte Wolldecke.

Im gleichen Augenblick packt mich eine starke Kraft, die ich nicht erwartet hatte und schleudert mich quer durch die Tiefgarage. Wie eine Briefmarke im Sturm werde ich in die andere Ecke gewirbelt, wo ich benommen in mich zusammensacke.

Mein Gott, was ist das? Ich spüre neben dem Schmerz im Kreuz, wie sich eine kalte Gänsehaut von den Waden über den Rücken bis zur Kopfspitze ausbreitet. Meine Nackenhaare sträuben sich. Ich spüre Angst! Blut tropft mir aus der Nase.

Es ist immer noch nichts zu sehen zwischen mir und dem weißen Cabrio auf der anderen Seite der Tiefgarage. Ich atme gehetzt, die mit Abgasen geschwängerte Luft ein. Mir wird schwindelig und ich reiße meine Augen weit auf, kämpfe dagegen an. Bloß nicht ohnmächtig werden, dann bin ich geliefert!

Wer oder was zum Teufel hockt da unter meinem Auto? Diese Frage bohrt sich in mein Gehirn. Was für ein beschissener Albtraum ist das hier?

Januar 2021

Titelbild: Ingo M. Ebert (privat) – Albtraum Tiefgarage

© 2021 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Das kleine Maiskörnchen

Es war einmal ein kleines Maiskörnchen, das wuchs an einem Maiskolben auf einem Feld, unweit der Stadt. Die Maispflanze befand sich auf einem Hügel. Der kleine Berg war groß genug, um von dort eine großartige Aussicht auf die kleine Stadt zu haben, die sich wie eine riesige Taube in die umliegenden Felder schmiegte.

Ein rundlicher, freundlicher Bauer hatte das Maisfeld gleich neben seinem Hof angelegt. Auf dem Bauernhof gab es noch viel mehr, wie Tiere zum Streicheln, ein Bauern Café und einen Spielplatz unter Bäumen mit viel Raum zum Toben. Die Kinder aus der Stadt kamen gern hierher, denn es war der allerbeste Abenteuerspielplatz weit und breit.

Illustration: Ziege – Andrea Schramek, Wien (andiart)

Unser kleines Maiskörnchen hatte viel Zeit in der Sonne verbracht und hatte eine gesunde gelbe Farbe bekommen. Da es sich genau an der Spitze des Maiskolbens befand, war es klein und kugelrund. Eines Tages war es soweit und der Maiskolben wurde geerntet. Keinen Tag später schenkte der Bauer genau diesen Kolben einem kleinen, blonden Mädchen mit Sommersprossen auf der süßen Stupsnase. Das kleine Mädel begann sofort den Maiskolben abzuknabbern. Das kleine Maiskörnchen wollte womöglich nicht vernascht werden und ließ sich nach unten fallen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Zähne an der Spitze angekommen waren.

Das Maiskörnchen kullerte vergnügt den Hügel hinab. Doch es war nicht weit gekommen, als ein Hase über den Weg sprang und nach dem Maiskörnchen schnappte. Puh, das war knapp, gerade noch so zwischen den Fellpfoten hindurch geschlüpft. Das hatte eine Krähe gesehen. Sie rief: „Warte, ich will Dir helfen.“ Dabei pickte sie nach dem kleinen Maiskörnchen. „Ich brauche keine Hilfe!“ rief das Maiskörnchen, wich geschickt dem Schnabel aus, kullerte schneller den Weg hinunter und verschwand am Ende im Gras. Die Krähe flog schimpfend davon.

Illustration: Andrea Schramek, Wien (andiart)

Das war knapp und das Maiskörnchen musste sich von dem Schrecken erst einmal erholen. Doch schon raschelte es im Gras und eine kleine freche Feldmaus erschien. Die Maus sagte: „Ich bringe Dich in Sicherheit.“ Packte das kleine Maiskörnchen und huschte damit in seinen Bau am Fuße des Hügels. In den Gängen war es dunkel und das Maiskörnchen konnte nichts sehen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde es in einer Vorratshöhle der hellbraunen Feldmaus vorsichtig abgelegt. Durch ein kleines Lüftungsloch blinkte ein vereinzelter Sonnenstrahl in die kleine Höhle und das Maiskörnchen sah sich mutig um. Es war hier nicht allein. Weitere Maiskörner, ein paar grüne Erbsen, eine angeknabberte große rote Erdbeere, ein kleiner grüner Apfel und ein Stückchen Weißbrot mit Senf dran. Das kleine Maiskörnchen rollte, soweit es konnte in die hinterste Ecke, aber noch so, dass es Nahe des Sonnenstrahls lag. Es warte jeden Tag auf die Feldmaus. Doch die kam nicht mehr.

Illustration: Andrea Schramek, Wien (andiart)

Das Maiskörnchen verschlief den trüben Winter und wurde im Frühling von einem Sonnenstrahl wach gekitzelt. Die Höhle war warm und feucht und das Maiskörnchen bemerkte an sich eine Veränderung. Es war nicht mehr goldgelb und rund, sondern runzelig und braun. Aus dem Inneren heraus begann ein kleiner weicher weißer Trieb zu wachsen. Die Faserwurde dicker und kräftiger mit feinen Härchen. Dann begann sie in die Erde zu kriechen, wie ein Regenwurm. Gleichzeitig wuchs eine grüne Faserschlange in die Höhe, dem Licht entgegen. Das kleine Maiskörnchen war nun gespannt, was noch alles passieren würde und gab seine letzte Energie in den grünen Trieb mit zwei zarten Blättchen ab, die unaufhaltsam nach oben krochen.

Aus den zarten Sprossen wuchs im Laufe des Sommers eine neue Zuckermaispflanze heran. Und ratet mal, wer zum Ende des Sommers am Maiskolben ganz oben an der Spitze auf die Ernte wartete?

Titelbild: Das kleine Maiskorn von Andrea Schramek, Wien (andiart)

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Das kleine Maiskörnchen:

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Athanasia – gefährliche Erinnerungen

Ich weiss nicht wann. Aber es war wirklich. Ich saß neben Athanasia Skipe in meinem Zimmer. Es war ziemlich klein. An der Decke war eine schwach leuchtende Lampe. Das Licht schien ihr aufs Gesicht. Sie sah wirklich gut aus. Ich strich ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Sie blickte mir tief in die Augen. Ich sah die goldenen Sprenkel in ihren Augen. Bis vor ein paar Wochen hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was sich hinter dem geheimnisvollen Glitzern verborgen hatte. Doch nun wusste ich es. Athanasia war nicht ein gewöhnlicher Mensch wie ich. Sie hatte unglaubliche Fähigkeiten. Ich selbst hatte es zuerst nicht geglaubt. Sie hatte es mir beweisen müssen, aber jetzt glaubte ich ihr. Sie war unsterblich. Da gab es nur eine Ausnahme, wenn jemand sie töten würde. Ich wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr Vater war. Sie wuchs bei ihrem Stiefvater auf, zusammen mit ihrem Stiefbruder Jeremy. Er hatte seine Mutter verloren, als er noch ein Baby gewesen war. Auch der Freund seiner Mutter war ums Leben gekommen. Und jetzt lebte er bei seinem leiblichen Vater. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Jedenfalls sah sie aus wie jedes normale 15-jährige Mädchen. Zu meinem Erstaunen wandte Athanasia ihren Blick ab und meinte:  „Ich muss mit dir reden, Jack.“  „Was ist denn?“, fragte ich sie verwundert. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte:  „Dads Befürchtungen sind wahr geworden.“ Ich starrte sie einen Moment überrumpelt an.  „Dieser Massenmörder, der Jeremys Eltern umgebracht hat. Er weiß, dass ich Agashas Abkömmling bin. Die Tochter der Dämonin Krankheit und des Verderbens.“  „Aber du lebst nicht mehr in der Hölle“, sagte ich sanft.  „Das spielt doch keine Rolle. Er will mich umbringen. Er will der Einzige sein, der ewig leben kann. Denn wer mich umbringt, wird unsterblich“, ihre Augen füllten sich mit goldenen Tränen. Ich nahm sie fest in den Arm und versuchte sie zu beruhigen.  „Aber du bist nicht so wie sie. Du wohnst bei Herrn Skipe. Deine Mutter hat die Macht zu zerstören. Du, die des Heilens.“  „Ich kann nicht bleiben. Dad wird mich verstecken.“ „Wie lange?“, fragte ich. „Lange“ sagte Athanasia knapp. Ich wusste, was das bedeutete. Wenn lange für einen Sterblichen einige Jahre war, wie viele Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte sollten das dann bitte für eine Unsterbliche sein?  „Ich liebe dich“, schluchzte Athanasia  „aber es muss so sein.“

Vergessen

Ich konnte es nicht glauben. Eigentlich hatte ich es schon immer gewusst. Doch ich wollte es einfach nicht glauben.  „Niemand außer Dad und Jeremy werden sich an mich erinnern können. Dazu wird Dad einen speziellen Zauber anwenden. Wenn ich dann aber gleich wiederauftauche, bringt das Ganze nichts.“ Jetzt kullerte auch mir eine Träne über die Wange. Das war so ungerecht. Was sollte ihr Stiefbruder damit, sich an sie zu erinnern. Er mochte sie ja sowieso nicht. Schnell wischte ich sie ab. Mir wurde bewusst, was das hieß. Ich würde mich nicht mehr an Athanasia erinnern können. Aber ich liebte sie doch. Die Vorstellung, sie zu vergessen, tat schrecklich weh. Irgendwo in meiner Brust spürte ich es hoffnungsvoll pochen. Ich liebe sie. Niemand kann mich dazu zwingen, sie zu vergessen, dachte ich. Doch meine Hoffnung war nicht sehr groß. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Herr Skipes Zauber funktionieren würde. Schließlich war er ein Cogitiates, ein menschenähnliches Wesen, dass unter anderem Gedanken lesen und Erinnerungen auslöschen konnte.  „Jack“, sagte Athanasia,  „bitte versteh das.“ Ich nickte betrübt.  „Schau in diesen Spiegel“, sie deutete hinter mich. Und wir drehten uns beide um. Ich sah einen 15-jährigen Jungen mit blondem, fast weißem Haar, hellblauen Augen und einem eher spitzen Kinn, der unglücklich zurück starrte.  „Und jetzt schau nur den Spiegel an.“, sagte sie schluchzend.  „Ich liebe dich“, sagte sie noch einmal. Ich wollte meinen Blick von dem Spiegel wegreißen, doch ich konnte nicht. Ein letztes Mal sah ich im Spiegel Athanasias braune Augen mit den goldenen Sprenkeln.  „Ich dich auch“, meine Stimme war vermutlich nur noch ein Flüstern. Im nächsten Augenblick blickte ich in den Spiegel. Das Einzige, was ich sah, war ein blonder Junge. Dann schüttelte ich verwirrt den Kopf und stand auf. Von diesem Augenblick an waren meine Erinnerungen an Athanasia verschwunden.

Foto: Foto von engin akyurt auf Unsplash

 „Hey Jack“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah meinen besten Freund Greg an.  „Hi“, sagte ich.  „Spielen wir zusammen Fußball?“, fragte er. Greg war sehr sportlich. Er liebte Fußball über alles. Und bat mich fast jede Pause in der Schule, ob ich mit ihm trainieren wollte. Ich stimmte zu und wir gingen zum roten Fußballplatz.  „Mit Mischel und mir läuft es gerade richtig gut“ erzählte Greg, während dem er mit dem Fußball jonglierte. Ich nickte. Greg hatte jeden Monat eine neue. Er war sehr beliebt. Ich war da eher der Typ, der spitze Bemerkungen um sich warf. Ich wusste, dass das nicht besonders nett war und das nicht zu Beliebtheit führen würde. Aber zu meiner Verteidigung: Mein Leben war ziemlich scheiße. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich Anwalt werde und haben mich auf ein behindertes Internat geschickt. Ich hatte wenige Freunde und war gerade dabei, meine Eltern mit schlechten Schulnoten zu enttäuschen.  „Und, wie läuft es mit Noemi?“, fragte Greg belustigt. Er wusste, dass ich nicht gerne darüber sprach.  „Ich mag sie.“ Erwiderte ich knapp. Greg kickte mir den Ball zu und ich warf ihn weniger geschickt zurück. Es klingelte viel zu früh. Wir nahmen unsere Schultaschen vom Boden und liefen Richtung Schulhaus. Das Treppenhaus war voll mit Schülerinnen und Schülern. Zielstrebig lief ich nach oben. Greg folgte mir etwas langsamer. Als ich mich ein wenig umblickte, sah ich Jeremy. Hasserfüllt starrte ich ihn an. Ich hatte schon immer eine große Wut gegen ihn. Wieso wusste ich nie genau. Aber sicher auch, weil er berühmt war. Nicht gerade auf der ganzen Welt, aber zumindest in der Umgebung. Ein richtiger Held. Aber nicht für mich. Er war nur deshalb so bekannt, weil seine Familie, als er etwa ein Jahr alt war, von einem Mörder heimgesucht wurde. Er hatte überlebt. Als einziger der Familie. Seine Mutter hatte ihn mit ihrem Leben beschützt. Nach dem Angriff hat man den Mann nie wiedergesehen, der all die schrecklichen Taten begangen hatte. Meine Eltern hatten, so sagte man, dem Mörder geholfen. Ich weiß nicht genau bei was oder ob sie jemanden umgebracht haben, aber ich wusste, dass sie einige Dinge getan hatten, die ich niemals machen würde. Mit hoch erhobenem Kinn stolzierte ich auf ihn zu.  „Na tut dir dein hässliches Gesicht noch weh, nachdem du gestern hingefallen bist?“, giftete ich ihn an. Es tat gut, jemanden zu beleidigen. So konnte ich für wenige Sekunden vergessen, wer meine Eltern waren und was sie von mir verlangten zu werden.  „Sei ruhig Jack, antwortete Jeremy wütend.  „Oh nein, die Legende Jeremy Skipe möchte nicht hässlich sein“, feixte ich weiter. Er wollte auf mich losgehen. Aber sein Kumpel Raffael hielt ihn zurück.  „Jeremy und sein armer Freund der bemitleideten Familie Rotschopf.“, mit diesen Worten wandte ich den beiden den Rücken zu und machte mich schnell aus dem Staub. Leider fühlte ich mich kaum besser.

Geheimnisse

Die letzte Stunde vor Schulschluss hatte ich Chemie bei Herrn Skipe. Mein absolutes Lieblingsfach. Nicht dass ich Klassenbester wäre oder so. Obwohl Herr Skipe auch Jeremys Lehrer war, schien er ihn nicht zu mögen. Ich meine, Herr Skipe war sowieso nicht in der Lage, irgendjemanden zu mögen, nachdem seine große Liebe Liljana von dem unbekannten Massenmörder umgebracht worden war. Doch er schien mich viel mehr leiden zu können als seinen eigenen Sohn. Das freute mich immer wieder.  „Der Unterricht ist zu Ende“, sagte Herr Skipe. Ich packte meine Tasche und lief die Tür hinaus. Als ich schon fast den Flur entlanggelaufen war, hörte ich Skipe sagen:  „Jeremy warte noch kurz.“ Ich ergriff die Gelegenheit. Wenn dieser riesige Rafael nicht bei ihm ist, ist er um einiges schwächer, dachte ich. Also wartete ich hinter der Tür. Da hörte ich, was die beiden besprachen.  „Wie geht es Athanasia?“, ich erkannte Jeremys Stimme. „Körperlich gut, geistig schlecht“, antwortete Herr Skipe kalt.  „Gewaltigen Liebeskummer“, ergänzte er mehr zu sich selbst.  „Was kann sie nur an Jack finden?“, fragte Jeremy aufgebracht.  „Er ist der Sohn dieser beiden früheren Anhänger des Massenmörders.“  „Bedenke, dass auch Athanasia von dem Bösen abstammt. Vielleicht findet sie sich von dieser dunklen Seite angezogen.“  „Das gibt keinen Sinn. Sie wird von dieser Seite doch gejagt! Du weißt, dass er wiederaufgetaucht ist. Er wird uns noch alle umbringen.“, entgegnete Jeremy wütend. Ich hörte Schritte. Da mir bewusst war, dass sie über mich geredet hatten, gab ich meinen Posten auf und lief schnell auf das Zimmer. Hastig schloss ich die Tür zu. Greg würde erst später kommen. Dann hatte ich unser Zimmer für etwa noch eine Stunde für mich allein. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. War das wirklich ich gewesen, über den sie gesprochen hatten. Mein Handy klingelte. Ich ging ran.  „Noemi?“, fragte ich verwundert.  „Hör zu Jack“, fing sie an,  „ich weiß ja, dass deine Eltern dir Druck machen und so, aber ich kann so nicht mit dir zusammen sein.“ Ich hatte es schon erwartet.  „Aha, und in wen hast du dich verguckt?“, fragte ich und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.  „Elia, wir treffen uns heute im Kino und dann …“ Ich schnitt ihr das Wort ab, in dem ich auflegte. Dass sie es wagte, mich anzurufen. So eine Ausnutzerin. Ich war mir sicher: Schlimmer konnte es nicht kommen. Aber so wirklich traurig war ich auch nicht über die Trennung. Richtig verliebt war glaub niemand von uns in den anderen gewesen. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber meine Einstellung gegenüber anderen Menschen war nicht halb so positiv. Deshalb war es schwer, eine Freundin zu finden. Den Rest des Abends kreisten meine Gedanken um das Gespräch zwischen Jeremy und seinem Vater. Doch es ergab keinen Sinn. Konnten sie vielleicht einen anderen Jack gemeint haben. Aber ich war der Einzige auf diesem Internat, der Jack heißt. Zu allem Überfluss kannte ich nicht einmal eine Athanasia. Da war es unwahrscheinlich, dass sie in mich verliebt war. Oder? Irgendwie kam mir der Name so wichtig vor. Ich überlegte so angestrengt nach wie schon lange nicht mehr. Aber ich konnte mich nicht erinnern.

Albtraum

Am nächsten Morgen, einem Samstag, war ich schweißgebadet aufgewacht. Sehr wahrscheinlich ein schrecklicher Albtraum. Aber wie ich mich an den Namen so konnte ich mich auch an den Traum kaum erinnern. Ein Spiegel und goldenen Augen waren im Traum vorgekommen. Mehr wusste ich nicht. Ich ging aufs Jungenklo im ersten Stock, um mich zu duschen. Alle Jungen, die ihr Zimmer auf dieser Etage hatten, teilten sich ein ziemlich großes Bad. Das warme Wasser auf meiner Haut fühlte sich beruhigend und erfrischend an. Ich band mir ein Badetuch um, das mir bis zu den Knien reichte und lies mich zuerst für eine Weile so auf der Bank neben der Dusche nieder. Wieder versuchte ich mich zu erinnern. Athanasia. Ich kannte diesen Namen von irgendwoher. Da war ich mir sicher. Dann zog ich meine Schuluniform an und trat in den größeren Bereich im Bad. Hier gab es einige Waschbecken. Ich blickte in den Spiegel, wie ich es im Traum gemacht hatte. Als hoffte ich Antworten von meinem Spiegelbild zu bekommen. Doch es schwieg.  „Athanasia, woher kenne ich diesen Namen?“«, fragte ich mich zum hundertsten Mal. Ich blickte erneut hoch in den Spiegel. Da sah ich ein Spiegelbild. Es war nicht mein Eigenes. Es war eine in Kapuzen gehüllte Gestalt. Der Silhouette zufolge tippte ich auf einen Mann. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte. Ich drehte mich ruckartig um. Doch bevor ich etwas machen konnte, zog der Mann ein langes Messer aus einer seiner Tasche hervor. Ich versuchte nicht zu würgen. Mich überkam Panik. Ich war sowieso nicht gerade der Mutigste dieser Welt. Das ließ mich fast tot umfallen. »Lauf weg! «, befahl ich mir. Doch der Mann war zu schnell. Ohne zu zögern hatte er zugestochen. Mitten in meine Brust. Ich sackte zu Boden. Völlig taub gegen die Welt.  „Zeit zu sterben, Jack“, sagte der Mann. Das konnte ich aber nicht mehr genau hören. Alles wurde wie von einem Nebel eingehüllt. «Ich sterbe «, schoss es mir durch den Kopf. Ich wollte schreien, aber meine Kehle brachte nur ein leises Geräusch hervor. Noch einmal stieß der Mann brutal zu. Diesmal tief in meinen Bauch. Ich stöhnte laut auf vor Schmerz. «Eine grausame Weise zu sterben «, dachte ich. Der Mann stampfte davon, schloss die Tür ab und ließ mich am Boden zurück. Arme und Beine in einem unnatürlichen Winkel von mir gestreckt lag ich da. Mein weißes Hemd war blutdurchnässt. Ich hatte keine Ahnung, warum der Mann das getan hatte. Aber das war sowieso nicht wichtig. Denn ich war überzeugt, dass ich nicht mehr lange zu leben hatte.

Foto von Wilhelm Gunkel auf Unsplash

Nach Luft ringend lag ich auf dem Boden. Unfähig, mich zu bewegen. Jeder Atemzug kostete mich sehr viel Anstrengung. Meine aufgeschlitzte Brust brannte und schmerzte, wie ich es mir nicht einmal in meinen Träumen vorstellen konnte. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Sie schrie erschrocken auf, als sie mich entdeckte und rannte auf mich zu. Schluchzend kniete sie sich neben mich und zerriss schnell mein blutgetränktes Hemd.  „Jack“, sagte sie immer wieder. Hoffnung regte sich in mir. Doch ich konnte sie kaum noch wahrnehmen. Das Mädchen war zu spät gekommen, jede Sekunde würde ich sterben. Nachdem sie mir das Hemd aufgerissen hatte, berührte sie mit ihren Fingern meine nackte, verletzte Brust. Zuerst zuckte ich zusammen und stöhnte erneut auf, als mich ein noch schlimmerer Schmerz überkam. Dann fühlte ich, wie der Schmerz nachließ. Als würde meine Wunde geschlossen werden. Ich blickte hoch und sah nur noch zwei mit Tränen überströmte Augen. Braune Augen mit goldenen Sprenkeln und goldenen Tränen. Für einen Moment konnte ich mich wieder an alles erinnern: Die Welt der Fabelwesen und Zauberei, an Athanasia, die Tochter einer Dämonin, die auf der Flucht war vor dem Massenmörder und an den Spiegel in dem ich Athanasia zum letzten Mal gesehen hatte. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Sterben oder Leben

Um mich herum war alles pechschwarz. Stickige Dunkelheit schien mich einzuhüllen. Zuerst dachte ich, dass ich tot bin. Schließlich war ich schwer verletzt worden. Doch dann fühlte ich Wärme. Also konnte ich noch nicht tot sein. Oder? Nein, ich war noch am Leben. Ich hörte Stimmen, aber ich konnte sie nicht erkennen oder verstehen. Ich wusste nicht, wer mit mir sprach Freund oder Feind. Da schaffte ich es endlich die Augen zu öffnen. Athanasias Gesicht nahm langsam Gestalt an. Ich fühlte mich, als ob eine Lawine voller Erinnerungen mich überrollen würde. „Athanasia“ brachte ich hervor. Mein ganzer Oberkörper tat mir weh. Doch es war nicht besonders schmerzhaft. Um das Ganze zu hinterfragen, hatte ich zu wenig Kraft. Ich war einfach nur froh, noch am Leben zu sein.  „Jack!“, schrie Athanasia, als sie merkte, dass ich die Augen geöffnet hatte. Vor lauter Aufregung hob sie ihre magischen, heilenden Hände von meiner nackten Brust und ich schrie erschrocken auf. Denn jetzt überkam mich der Schmerz, den ich schon vorher erleidet hätte, hätte Athanasia ihre Kräfte nicht eingesetzt. Es fühlte sich so an, als ob mich jemand durch einen Speer gestoßen hätte. Ich keuchte und versuchte mühsam Luft zubekommen. Meine Brust zitterte und mein ganzer Oberkörper zuckte immer wieder. Ich fing an zu schluchzen. Jetzt bekam ich noch schlechter Luft. Mein Atem ging flach und schnell. Zu schnell. Zum Glück dauerte das ganze nur einige Sekunden, bis Athanasia ihre Hände wieder auf die klaffende Wunde nahe meinem Herz presste. Der Schmerz wurde schlagartig zu einem Unangenehmen ziehen und stechen. Es tat zwar immer noch weh. Aber um Welten weniger als vorher. Keuchend lag ich auf dem Rücken und schaute mich so gut es ging um. Mein Hemd hatte ich nicht mehr an. Doch ich trug immer noch die dunkelgraue Schuljeans und die schwarzen Turnschuhe. Es war ziemlich unbequem. Denn ich lag auf dem harten Boden von Herrn Skipes Schulzimmer, der neben mir stand und mich mit besorgter Miene betrachtete.  „Bald wird es dir besser gehen.“, versicherte Athanasia mir. Doch sie klang eher, als wollte sie sich selbst überzeugen. Plötzlich kam Jeremy hereingerannt.  „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, sagte er völlig außer Atem.  „Und er kann sich wirklich an dich erinnern?“ Athanasia nickte. Sie hatte noch immer nicht aufgehört zu weinen. Doch sie tat es lautlos. Ich sah die goldenen Tränen, die ihr über die Wangen kullerten.  „Aber wie kann das sein?“, fragte Jeremy seinen Stiefvater. „Ich habe eine Vermutung“, begann Herr Skipe,  „als Jack so versessen darauf war zu wissen, wer Athanasia ist, und er sie dann auch noch sah, sind seine Erinnerungen und auch die aller anderen Menschen zurückgekehrt“.

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 „Du hättest in deinem Versteck bleiben sollen“, sagte Jeremy streng zu Athanasia, „noch mal kann Dad die Erinnerung an dich nicht löschen. So was geht nur einmal.“

 „Jeremy, du weißt genau, dass ich es spüre, wenn jemand, den ich kenne, schwer verletzt ist und meine Hilfe braucht. Ich habe die Macht, denen zu helfen. Darum tue ich es.“, verteidigte sich Athanasia. Sie hatte aufgehört zu weinen und tat so, als versuche sie ihre Hände auf die richtige Stelle meiner Verletzungen zu halten. Doch vermutlich wollte sie nur den Blicken der anderen ausweichen. Nun bemerkte ich erst, dass sie sich für mein Leben in große Gefahr begeben hatte. Denn jetzt, da sich der unbekannte Mörder wieder an sie erinnern konnte, wollte er sie töten. Wieso eigentlich? Niemand war sich sicher. Aber vermutlich, weil derjenige, der sie tötete, unsterblich werden würde. Benommen blickte ich zu Jeremy hoch. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er jetzt, da ich so verletzlich war, nach mir geschlagen hätte. Meinem Leben ein Ende bereitet hätte. Doch er tat es nicht. Anstelle dem brüllte er Athanasia an:  „Wie konntest du nur! Wie konntest du dein Leben für ihn aufs Spiel setzen. Er ist böse! Was, wenn dich dieser Mörder tatsächlich tötet. Und er unsterblich wird. Er wird die Möglichkeit haben, Jahrhunderte lang zu töten. Wie konntest du ihm helfen! Wie um alles in der Welt konntest du dich überhaupt in ihn verlieben.“ Jetzt wurde Athanasia richtig wütend. Ich merkte, wie sich ihre Finger auf meiner Brust verkrampften. Dann schrie sie:  „Jeremy, Du herzloser kalter Stein! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Jack ist kein böser Mensch! Weißt du wieso? Weil er niemals jemanden sterben lassen würde, wenn er es verhindern könnte. Du schon! Du wolltest ihn einfach verbluten lassen! Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ Jeremy hatte es die Sprache verschlagen. Er lief auf die Tür zu und wollte das Zimmer verlassen. Doch er drehte sich noch mal um und blickte zu mir runter. Hilflos, schwach wie ich war, konnte ich nichts anderes als zurückzublicken.  „Ich sage dir eines, Jack Midare“, drohte er mir, „wenn sie umgebracht wird, ist das ganz allein deine Schuld!“

Wunder

 „So, jetzt sollte es gehen“, verkündete Athanasia. Ein paar Stunden waren vergangen, seitdem ich im Schulzimmer aufgewacht war. Ich konnte wieder ohne Schmerzen reden. Nach wie vor lag ich auf dem Boden. Nun aber auf einigen weichen Kissen. Langsam hob sie ihre Hände von meiner Brust ab. Ich drohte nicht mehr zu verbluten, da die Wunde durch Athanasias Magie einigermaßen geschlossen worden war. Ein leichter Schmerz kam in mir hoch und ich versuchte nicht zusammenzuzucken.  „Und jetzt?“, fragte ich,  „Was wirst du tun Athanasia?“  „Ich weiß es nicht.“, gestand sie und schaute ihren Vater um Rat bittend an. Doch er sagte nichts. Langsam versuchte ich mich aufzurichten. Nach ein paar Minuten getraute ich mich sogar aufzustehen. Wackelig stand ich auf den Beinen. Erst jetzt merkte ich, wie kalt mir war. Herr Skipe bemerkte es und reichte mir einen frischen, schwarzen Pullover. Schnell zog ich ihn an.  „Das sage ich meinem Vater“, sagte ich wütend,  „diese Schule sollte geschlossen werden.“ Athanasia sah mich schockiert an. Doch Herr Skipe sagte nur kalt:  „Sie sind schon auf dem Weg hierher.“ Wenige Sekunden waren vergangen, als mein Vater in das Zimmer trat. Meine Mutter folgte ihm. Mein Vater hatte seine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mir entging der überraschte Ausdruck auf Athanasias Gesicht nicht. Sicher hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sehr ich meinem Vater glich. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als von meinen Eltern in den Arm genommen zu werden. Doch steinkalt, wie sie waren, tätschelte mir meine Mutter nur die Schulter. Immer noch besser als mein Vater, der sich nicht einmal die Mühe machte, mich anzusehen. Sie wirkten beide sehr betrübt.  „Ich bitte um Privatsphäre“, meinte er arrogant.  „Wie sie wünschen Herr Midare“, antwortete Herr Skipe. Ich merkte, dass er sich respektlos behandelt fühlte. Nur widerwillig verließen er und Athanasia das Zimmer.

 „Oh Gott, was hat er dir nur angetan?“, fragte meine Mutter besorgt. Anstatt zu antworten streifte ich mit meinen Fingern leicht über die Stelle, wo ich wusste, dass sich unter meinem Pulli die Narben befanden. Ich zögerte einen Moment und fragte mich, ob es meine Eltern wirklich interessieren würde. Dann kam mir der Gedanke, dass mein Vater sicher froh sein würde, wenn er einen Grund hätte, sich bei jemandem zu beschweren. Also zog ich meinen Pullover aus und gab den Blick auf die zwei riesigen frischen Narben frei. Als ich sie betrachtete, wurde mir bewusst, wie stark Athanasias Heilkräfte waren. Ohne sie wäre ich schon lange tot. Ich hörte meine Mutter laut schlucken. Doch sie machte sich immer noch keine Anstalt mich in den Arm zunehmen. »Mach dir nur nicht die Mühe, Mom. Schließlich ist dein Sohn gerade beinahe ermordet worden.« Fast hätte ich die Worte laut gesagt, aber ich entschloss meinen Mund zu halten. Bevor ich wieder anfing zu frieren, zog ich mir den Pullover abermals an. Zuerst schwiegen wir alle. Dann sagte meine Mutter etwas, dass mich erstaunen ließ:  „Das ist ganz allein unsere Schuld“, erklärte sie.  „Jack, bitte verzeih uns. Er hat das getan, um uns zu bestrafen.“ Ich sah sie verwundert an.  „Wer?“, fragte ich sie.  „Es ist nichts.“, sagte mein Vater mit einem strengen Blick zu meiner Mutter. Entschuldigend senkte sie ihre Augen und starrte auf den Boden.  „Was habt ihr damit zu tun?“ fragte ich. Stille.  „Nun sagt schon. Ich weiß das ihr etwas wisst. Ich bin nicht blöd.“, forderte ich sie heraus. Ich war überrascht von mir selbst. Normalerweise getraute ich mich nicht mit meinen Eltern so zu reden. Ich hatte immer Angst vor den Konsequenzen gehabt. Doch das war mir in diesem Moment völlig egal.  „Du wagst es so mit deinem Vater zu reden“, die Stimme meines Vaters war tief und kalt.  „Ich würde nie behaupten, dass du dumm bist, Jack, trotzdem halte ich es nicht für besonders schlau, wenn du dich auf diese Leute einlässt, mein Junge.“

 „Diese Leute?“, jetzt war ich so wütend, dass ich die Angst vor meinem Vater verlor,  „du meinst Athanasia, du hältst sie für Abschaum, weil sie nicht von Adligen abstammt oder in einem großen Haus wohnt? Athanasia, meine Freundin! Athanasia, die mir das Leben gerettet hat! Ohne sie wäre ich tot Dad! Ich weiß nicht, was ihr mit dem Angriff zutun habt. Ich weiß nur, dass es so ist! Wie kannst du Athanasia nur so hassen. Sie hat einen deiner größten Fehler geradegerückt. Ich wäre tot, wenn sie nicht wäre!“, schrie ich meinen Vater wütend an. Ich blickte ihm tief in die Augen. Es war, als ob ich in meine Eigenen schauen würde. Nur war ich mir sicher, dass ich noch nie so finster und kalt geblickt hatte, wie mein Vater es gerade tat.

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Familie

 „Du gehst zu weit, mein Sohn“, sagte er. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich getan hatte. Und ich bekam wieder Angst. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Aber jetzt war es zu spät. Mein Vater würde mir nie verzeihen, dass ich zugegeben hatte, dass ich ein Mädchen liebte, das nicht seinen Wünschen entsprach. Schneller als ich reagieren konnte, hob mein Vater seinen Stock und schlug damit auf meine frischen Verletzungen auf meiner Brust. Vor lauter Schmerz schrie ich laut auf. Der Schlag war nicht hart gewesen, aber es hatte schon gereicht. Ich bekam weiche Knie und lehnte mich gegen die Wand. Dann sank ich langsam zu Boden. Ich griff mir unter den Pullover und fühlte warmes Blut. Die Wunde hatte sich geöffnet. Meine Mutter wollte zu mir eilen. Doch bevor sie bei mir war, war Athanasia aufgetaucht. Mit besorgter Miene. Wieder kniete sie sich neben mich und sagte  „Ich dachte, es würde genügen.“ Dieses Mal musste sie ihre Hand nur kurz auf die Wunde legen. Bis sie sich wieder schloss. Entschuldigend blickte sie mich an. Ich nahm sie fest in den Arm, wie es meine Schmerzen zuließ. Zu gerne hätte ich sie jetzt geküsst, aber ich wusste das mein Alter ausrasten würde.  „Mein Vater,“ erklärte ich ihr so leise, dass es außer uns niemand hören konnte. Dann deutete ich auf meine Brust. Sie verstand, richtete sich auf und drehte sich mit wutverzehrter Miene zu meinem Vater um. Dann deutete sie mit ihrem Finger auf ihn und schrie ihn an:  „Sie! Wie können sie etwas so Dummes und Leichtsinniges tun! Jack ist schwer verletzt! Jemand wollte ihn umbringen!“

 „Mein Sohn kann auf sich selbst aufpassen! Er braucht deine Hilfe nicht, du verfluchtes Höllenkind!“, mit diesen Worten gingen er und meine Mutter die Tür hinaus. Das Kinn hoch erhoben ließen sie mich zurück. Meine Mutter wirkte traurig. Aber meinen Vater scherte es nicht, dass ich fast gestorben wäre. Bis zum heutigen Tag hatte er es nicht für notwendig gehalten, sich bei mir für den Schlag gegen meine tödlichen Wunden zu entschuldigen.

Wochenende

Es war stockfinster. Langsam richtete ich mich in meinem weichen Bett auf und streckte mich ein wenig. Auf dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers, das eigentlich mir gehörte, schlief Athanasia. Ich saß auf Gregs Bett. Er war über das Wochenende nach Hause gefahren. Musste schön sein, richtige Eltern zu haben. Die ihr Kind liebten. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen. »Sie lieben mich. Nur ist das ihnen halt peinlich «, dachte ich verbittert. Aber wenigstens hatte ich Athanasia zurück. Sie hatte darauf bestanden, in der Nähe zu übernachten, dass sie mir zu Hilfe eilen konnte, sobald sich meine Wunden wieder öffnen würden. Das war nett von ihr, das weiß ich. Trotzdem wollte ich sie beschützen, nicht umgekehrt. Da kam es mir komisch vor, dass sie mir das Leben retten musste. Meine Wunden waren wieder geschlossen. Doch sie könnten bei einem Zusammenstoß jederzeit aufgehen. Währendem saß ich auf dem Bett und überlegte, ich weiß, das ist merkwürdig, ob ich wohl an diesen Verletzungen noch sterben würde und ob mein Vater dann an meinem Grab weinen würde. Vorausgesetzt, mein Vater würde sich überwinden und Geld für die Beerdigung seines Sohnes bezahlen. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klingelte mein Handy. Froh über die Gelegenheit, an etwas anderes denken zu können, stand ich auf und ging zu dem kleinen Schrank, auf dem mein Handy lag und griff danach. Athanasia war aufgewacht. Ihre braunen Haare waren zerzaust und unter ihren Augen konnte ich in dem wenigen Licht, dass von der Nachttischlampe kam, tiefe Augenringe erkennen. Wir setzten uns nebeneinander auf mein Bett, auf dem Athanasia sich aufgerichtet hatte, ich nahm den Anruf an, stellte ihn auf Lautsprecher und lauschte gebannt. Meine Mom rief an.   „Jack, Schatz bist du allein?“

 „Nein, Athanasia ist bei mir“, antwortete ich.

 Mit zusammengekniffenen Augen sah ich das Handy an. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter irgendetwas gegen Athanasia sagen würde.  „Na ja, könnte sie vielleicht“, begann meine Mutter. Ich seufzte entnervt.  „Sprich oder ich lege auf.“, meinte ich.  „Nein, Jack, es ist wichtig.“, jetzt klang sie verzweifelt. Athanasia runzelte verwirrt die Stirn.  „Es stimmt. Wir, ich und dein Vater, wir haben wirklich etwas mit dem Mordversuch an dir zu tun.“, schluchzte sie. Ich hatte es schon gewusst. Doch Athanasia schien überrascht.  „Es stimmt, der namenlose Massenmörder ist zurück. Er hat mich und deinen Vater zu sich gerufen. Wir hatten nicht gewusst, dass er das war. Eine ganze Familie hätten wir für ihn auslöschen müssen. Nur weil er Lust hatte. Ich weigerte mich. Und dein Vater stimmte mir dann auch zu. Doch wir konnten nicht einfach gehen. Er schrie uns hinterher, dass er dich töten würde. Ich wollte es verhindern, aber dein Vater meinte, es wäre besser, wenn du sterben würdest als wir alle drei. Dein Vater, er will nicht, dass du es weißt, aber ich kann dir keine Lügen …“, sie konnte nicht mehr weiterreden, weil sie angefangen hatte zu weinen. Mit wutverzerrter Miene starrte ich an die gegenüberliegende Wand. Dann drückte ich den Anruf weg. Von meinen Eltern wollte ich nie mehr etwas hören.

Seit einer Woche habe ich jetzt nichts mehr von meinen Eltern gehört. Das konnte mir nur recht sein.

ein gefährlicher Ausflug

Es war Montagmorgen. Ich wanderte Schulter an Schulter mit Athanasia durch den Wald. Wir gingen mit einigem Abstand hinter den anderen, welche mit auf den Ausflug gekommen waren. Athanasia hatte in den letzten Tagen alles versucht, um mich von dem Streit zwischen mir und meinen Eltern abzulenken. Nach langer Arbeit hatte sie es dann doch geschafft, mich zum Mitkommen zu überreden. Ich war entspannt, wie seit Tagen nicht mehr. Meine Narben waren zwar immer noch zu sehen und Athanasia konnte mich bisher nicht fest umarmen, aber das war auch schon alles, was von dem Mordversuch geblieben war. Wir gingen nah an einer tiefen Schlucht entlang. Ich schielte zum Abgrund hinunter. Da hörte ich ein Rascheln hinter mir im Gebüsch. »Sicher nur ein Tier «, dachte ich. Aber es raschelte erneut. Ängstlich wie ich war, drehte ich mich ruckartig um. Sodass ich Athanasia fasst umgeworfen hätte. Sie war genervt, doch ich hatte Recht gehabt. Irgendjemand folgte uns.  „Wer ist da?“, fragte ich hitzig. Athanasia grub ihre Fingernägel tief in meinen Oberarm, was ziemlich schmerzhaft war. Ich blickte sie an und wollte fluchen. Aber da sah ich ihn. Den Mann, der mich fast getötet hätte. Hilfesuchend schaute ich mich in alle Richtungen um. Aber ich konnte die anderen nirgends entdecken. Verzweifelt schrie ich um Hilfe.

Der Mann kam näher. Sein Gesicht konnte ich kaum erkennen. In der Hand trug er ein Messer. Mir wurde speiübel.  „Jack „, piepste Athanasia neben mir. Schützend stellte ich mich vor sie und war sofort verblüfft über mein kleines bisschen Mut.  „Deine Eltern hätten mir dienen müssen. Sie wären mächtig geworden. Du wärst mächtig geworden.“, sagte der Mann. Ich schluckte. Athanasia stolperte in ihrer Aufregung über eine Baumwurzel, fiel auf den Boden und kroch nun keuchend auf ihren Hinterteil rückwärts vom Mann weg, bis sie einen Baumstamm erreichte und zitternd verharrte. Der furchteinflößende Mann versuchte mich mit seinem Messer zu verletzen. Zuerst konnte ich ausweichen. Doch dann gelang es ihm. Ich hatte nicht richtig aufgepasst. Der Mann hatte es bemerkt und die Situation ausgenutzt. Unter gruseligem Gelächter stach er sein Messer in meinen Oberschenkel. »Verdammt, mit was habe ich das verdient «, dachte ich. Mein Gesicht war schmerzverzerrt und ich schrie verzweifelt auf. Plötzlich schoss Athanasia hinter mir hervor und verlieh dem abgelenkten Mann einen heftigen Stoß. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wedelte mit dem Armen und versuchten das Gleichgewicht zu finden. Mit seinen Schuhen hatte er die Kante zum Abgrund leicht übertreten. Als ihm bewusstwurde, dass er stürzen würde, griff er verzweifelt nach mir, da ich inzwischen mühsam auf die Beine gekommen war. Ich strauchelte eine Sekunde lang. Dann rutschte der Mann ab und ich wurde von ihm mitgerissen. Und ich fiel. Immer tiefer. Und tiefer.

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Voller Angst wurde mir klar, was passiert war. Der Mann hatte mich nun losgelassen. Ich versuchte mich auf den Aufprall vorzubereiten. Doch, bevor es soweit kam, packte mich etwas an meiner Schulter, krallte sich meinen Pullover und hielt mich fest. Ich dachte, es wäre ein verdorrter Zweig, der an der Felswand wächst, aber dann wäre er doch gebrochen und ich wäre wieder gefallen. Ich sah, wie der Mann unter mir weiter in die Tiefe stürzte. Bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er war tot. Nun sah ich mich nach meinem Retter um. Es war Athanasia. Aber wie konnte das sein? Von dem Klippenrand hätte sie mich unmöglich halten können. Dafür war ich schon zu weit gefallen. Athanasia schwebte. Staunend blickte ich sie an. Da stand sie. In der Luft. Unter ihr nur ein leichter Schimmer Licht, hielt sie mich mit einem Arm mühelos fest. Ihre Fähigkeiten hatten mich wieder einmal überrascht. Nun zog sie mich problemlos hoch neben sich.  „Solange du dich an mir festhältst, wirst du nicht fallen“, erklärte sie. Ich hielt ihren Arm, währenddem wir gemeinsam über einen unsichtbaren Boden liefen. Die Hand hatte sie kurz auf meinen Oberschenkel gepresst, der schlagartig heilte. Bei jedem ihrer Schritte erschien unter uns ein leuchtendes, durchsichtiges Stück Fläche. Wir blickten uns tief in die Augen, dann küsste ich sie und mir wurde bewusst, dass sie mir das Leben gerettet hatte. Schon wieder. Ich spürte ihre Lippen auf meinen und dachte: »Etwas Gutes gibt es an dem Ganzen. Mein Leben kann nur noch besser werden. «

Verfasser: auf Wunsch anonym

Titelbild: Foto von Amin Hasani auf Unsplash

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Streng Vertraulich! Top secret!

Das rote Telefon klingelt schrill. Am massiven Mahagoni-Schreibtisch unterbricht ein untersetzter Mann seine Arbeit und sieht erstaunt auf. Es ist der 8. Januar 2021 um genau 13:44 Uhr. Das Klingeln hört nicht auf. Hm, also keine Störung, denkt er und greift nach dem Hörer.

„Hallo?“ Sagt er knapp und leicht genervt. Er war gerade dabei, eine Fernsehansprache zu schreiben.

„Here is Donald, Donald John Trump, President of the United States of America“ meldet sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Ja ich weiß, wer sollte sonst auf diesem Apparat direkt bei mir anrufen.“, entgegnet der russische Präsident und rollt mit den Augen. Der Blödmann geht mir auf den Sack, denkt er und spricht ruhig in die Telefonmuschel.

„Hier spricht Wladimir Wladimirowitsch Putin, , Президент Российской Федерации.“

„I need dringend deine Hilfe!“, kommt Donald sofort zur Sache.

„Ok“ atmet Wladimir in den Hörer.

„I brauche sofort Werkzeug!“

„Deshalb rufst du auf dem roten Telefon an? Ты крутешься? Ich hatte schon Panik und dachte, bei euch ist der Bürgerkrieg ausgebrochen und die Atomwaffen sind in die falschen Hände geraten.“

„So far habe ich es nicht kommen lassen, habe alles under control.“

„Ну, в конце концов,, die letzten Nachrichten aus Washington waren schon beunruhigend.“

„I say doch, no problem!“

„Хорошо, verstehe und nun rufst du an, weil du „Werkzeug“ brauchst, um den Joe Biden loszuwerden.“

„Euer Nowitschok is not bad, aber soweit bin I noch nicht.“

„Ага, was brauchst du dann?“

„In knapp two weeks ist die Präsidentschaftsübergabe im White House…“

„Да и далее?“ drängelt Putin.

„…and es wird dann auch the suitcase mit den Codes für alle US nuclear weapons übergeben.“

„Понять. Wozu brauchst du da ein Werkzeug from Russia? Habt ihr keinen Baumarkt bei euch um die Ecke?“

„I need Special-Werkzeug.“

„Извините, ich kann dir gerade nicht folgen.“

Jetzt rollt Donald im Oval Office gereizt mit den Augen. „Also the Suitcase steht bei mir im Wandtresor im Study.“

„Hm.“

„The Study is, how alle anderen Räume fest verschlossen.“

„Ach , что?“ Putin ist amüsiert.

„And ich have last week beim Golfen lost my keyring.“

„Блин, was für eine Катастрофa!“

Foto von René DeAnda auf Unsplash

„Yes, du sagst es! Ich habe inzwischen heimlich all Türschlösser im White House austauschen lassen. Can you dir vorstellen, what that gekostet hat?“

„Kann ich mir gut vorstellen. Weißt du, cколько Türschlösser der Kreml hat?“

„How?“

„Забудь!! Aber ich verstehe immer noch nicht, wofür du das Spezialwerkzeug brauchst?“

„In my study is a Specialschloss in the armoured door. Das kann man nicht einfach aufbohren. Dafür brauche ich einen Specialists, der das Schloss so open can, dass es keiner bemerkt and es nicht broken geht.“

„Warum rückst du nicht gleich mit der Sprache raus? Ich schicke dir sofort deinen Hausmeister Sam vorbei. Der erledigt das за две минуты, macht er nicht zum ersten Mal.“

„Thanks Wladimir, du hast my ass gerettet. By the way, das Gespräch hat nie stattgefunden.“

„Уверен, Good Night Bro, halt die Ohren steif, man sieht sich!“

Titelbild: Foto von Arno Senoner auf Unsplash

© 2021 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

Nie wieder Frankfurt am Main

Die zweite Reise nach Westdeutschland nach der Grenzöffnung führte mich 1990 nach Frankfurt am Main. Ich war gerade frisch arbeitslos, als mir eine Anzeige im Rostocker Blitz auffiel.

Betreuer für Spiel- und Warenautomaten deutschlandweit gesucht. Rostock wurde in dieser Nachwendezeit nahezu von Sex-Shops, Spielautomaten, Baumärkten, Autohäusern und Drogerieketten überflutet. Eben alles, was es seit Ende des 2. Weltkriegs im Osten nicht mehr gab. Der Bedarf an solchen Sachen schien unersättlich und es wurden fähige Mitarbeiter gesucht. Arbeitskräfte waren nach der Schließung der volkseigenen Betriebe und Werften im Osten an und für sich ausreichend vorhanden. Dennoch wagte ich einen Versuch und bewarb mich auf diese seriös wirkende Anzeige.


KEMPINSKI HOTEL FRANKFURT GRAVENBRUCH

Tatsächlich wurde ich zwei Wochen später zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt am Main eingeladen. Dieses Gespräch sollte im Kempinski Hotel Frankfurt Gravenbruch stattfinden. Ich kaufte mir ein neues Hemd und bereitete mich sehr konzentriert darauf vor, denn ich fühlte mich als junger Vater für meine Familie verantwortlich. Nichts sollte schief gehen.

Aufgeregt fuhr ich Ende November mit dem Zug nach Frankfurt (Main) Hbf. Am frühen Nachmittag kam ich etwas müde an. Hoch motiviert fuhr ich mit der S-Bahn sofort weiter. Im Hotel angekommen war noch etwas Zeit bis zum Termin. Ich hatte bisher nichts Richtiges gegessen und suchte deshalb das Restaurant auf. Nach einem kurzen Blick in die Speisekarte wurde mir schnell klar, hier speist die Upperclass.

Quelle: Luxuriöses 5 Sterne Hotel in Neu-Isenburg, Frankfurt | Kempinski Hotel Frankfurt

Meine Finanzen waren beschränkt, so bestellte ich aus der Kategorie Vorspeisen einen Feldsalat. Ich sah vor meinem geistigen Auge eine große Schüssel mit leckerem Salat. Wenig später servierte mir der Kellner dann einen kleinen Teller mit einer einzigen Feldsalatpflanze. Sie war dramatisch dekoriert mit zwei winzigen roten Zwiebelringlein und einem Hauch Öl. Dazu gab es eine Scheibe Baguette. Geschockt fragte ich mich, ob ich gerade ein Opfer von der versteckten Kamera geworden war. Aber es kam kein Moderator um die Ecke, um mich abzuholen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so langsam und millimeterweise ein einziges Salatblatt gegessen. Dass ich dafür einen zweistelligen DM-Betrag zahlen durfte, möchte ich nur kurz am Rande erwähnen.

Beim Herausgehen stahl ich heimlich ein Stück Baguette vom Buffet. Das war mir so was von peinlich, aber ich wollte nicht mit knurrendem Magen im Gespräch sitzen.

ein neuer Job?

Das Vorstellungsgespräch verlief anders als erwartet. Es war ein riesiger Andrang vor dem gemieteten Seminarraum. Im zwanzig Minuten-Takt wurden jeweils 3 Personen in den Raum gerufen. Das kam mir schon komisch vor. Dann war ich dran. Man legte uns dreien einen Vertrag über den Kauf von Glücksspielautomaten für Uhren vor und drängte auf eine Unterschrift. Wir hatten die Wahl zwischen vier, sechs oder acht. Der feine Herr meinte, die Profis nehmen zehn, das würde sich mehr rechnen. Ich fragte mich, für wen? Ein einzelner Automat kostete komplett, also mit Uhren, rund eintausend Deutsche Mark. Das war sehr viel Geld für einen Arbeitslosen.

Der Spielautomat hatte oben einen sechzig Zentimeter hohen, kastenförmigen durchsichtigen Aufsatz mit verschiedenen Armbanduhren, aller Farben und Formen, mit Leder- oder Metallarmband als Gewinn. Der untere kleinere Teil war aus Metall, versehen mit einem Münzschlitz, einem Drehknopf und einem Ausgabeloch. Im Inneren befanden sich kleine Loskugeln und die Geldkassette, so ähnlich wie bei Kaugummi-Automaten vor Schulen.

Wir sollten diese Geräte eigenverantwortlich in Gaststätten, Kneipen und Klubs aufstellen lassen. Der Gast konnte dann für fünf Deutsche Mark eine Los Kugel ziehen. Der Gewinn war schließlich eine der billigen Armbanduhren aus dem Kasten. Der Nachschub für die Automaten, Lose und Uhren durfte ausschließlich bei der Firma bestellt werden. In Vorkasse versteht sich! Diebstahl oder Beschädigung wäre unser Problem.

Ich fragte nach: Es würden laut Anzeige Betreuer gesucht und keine Käufer? An die Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, nur das ich auf einmal ganz schnell vor der Tür stand. Großartig gelaufen dachte ich noch, aber immerhin war ich so clever und hatte keinen Knebelvertrag unterschrieben. Die Enttäuschung, ohne Arbeit nach Hause zu kommen, schmerzte sehr.

Bahnhofsviertel

Mein Zug sollte um 22:00 Uhr als Nachtzug zurück nach Rostock gehen. Ich brauchte etwas Ablenkung. Deshalb nutzte ich die Zeit, um mir die Sehenswürdigkeiten Frankfurts rund um den Hauptbahnhof anzusehen. Für einen kleinen Imbiss lag noch etwas Geld in meinem Portemonnaie. Also lief ich einfach drauf los.

Weit kam ich nicht, denn zwei nette Mädels sprachen mich an: „Na junger Mann, Lust auf ein Bier? Kostet auch nur drei Mark fünfzig.“ Freundlich wie ich bin und immer bemüht, auf Reisen den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu suchen, um die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen zu studieren, willigte ich ein. Die Damen begleiteten mich in eine spärlich beleuchtete Räumlichkeit. Es war kein weiterer Gast im stark abgedunkelten Raum. Sofort war eine gut aussehende Kellnerin da und stellte mir ungefragt das Bier auf den Tisch. Die beiden anderen Hübschen säuselten: „Dürfen wir auch was trinken?“ Das kam mir zwar komisch vor, aber ich antwortete: „Sicher dürft ihr was trinken, wo soll da das Problem sein.“ Schwups standen zwei Schnapsgläser auf dem Tisch. Im selben Augenblick wurde mir die Rechnung präsentiert. Ich hatte bis dahin noch keinen einzigen Schluck von dem Bier genommen, so schnell ging das alles. „Sofort zahlen!“, kam die klare und bestimmte Ansage. Ich konnte im Dunkeln keinen Betrag erkennen. Mit einer Taschenlampe wurde mir erst ins Gesicht und dann auf die Rechnung geleuchtet. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Da stand als Gesamtsumme: 223,50 DM.

„Das kann nicht sein“, sage ich „erstens kostet das Bier nur drei fünfzig und für die Damen hatte ich nichts bestellt, schon gar nicht im Wert von hundertzehn Mark pro Getränk.“

Die Beträge der beiden Schnäpse wären klar und deutlich auf der Getränkekarte ausgezeichnet, kam die Antwort zurück. Gleich darauf verschwanden die drei Mädels und ich nutzte die Gelegenheit, einen Blick auf das am anderen Tischende versteckte Blatt Papier zu werfen. Da stand tatsächlich Bier: 3,50 DM, klarer Schnaps: 110,00 DM und es ging hinauf bis zu einer Flasche Champagner für 4000,00 DM. Wie ich noch so dachte, gut, dass die beiden keinen Schampus trinken wollten, traten zwei große kräftige Männer an den Tisch. „Du nicht zahlen willst?“, wurde ich mit slawischem Akzent angefahren.

„Zahlen will ich schon“, antwortete ich mit trockenem Hals „aber, ich habe nicht so viel Geld.“

Ich hatte immer noch keinen Schluck von dem teuren Bier getrunken. „Wie viel du hast?“ „Kann ich nicht sagen, weniger als einhundert Mark.“ „Zeig her und Lederjacke ausziehen.“, kam der Befehl, welcher keinen Widerstand duldete. Ich gab meine Brieftasche und Lederjacke ab und verabschiedete mich schon gedanklich von ihnen. Beide Sachen wurden sorgfältig durchsucht und alles bis auf den letzten Pfennig eingezogen. „Verschwinde, bevor anders überlegen!“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Beim Herausgehen wurden mir meine Jacke und die leere Geldbörse hinterhergeworfen.

Nacht in Frankfurt am Main (Foto von Justus Menke auf Unsplash)

Drogen?

Draußen war es nun dunkel geworden. Mein Bedarf an Sightseeing sank auf einen Nullwert. Durstig, hungrig und völlig verstört, schlich ich zurück zum Hauptbahnhof. Was für ein bescheidener Tag. Auf einmal quatscht mich auf der Straße ein junger Mann an: „Hey Du.“ „Wer ich?“ „Pst, nicht so laut.“ Leiser: „Wer ich?“ „Ja, Du! Brauchst Du was?“ Ich schaute ihn irritiert an: „Was soll ich brauchen?“, zweifelnd, dass er mir Geld oder Essen und Trinken anbieten wollte. „Na, was zum Rauchen, Koksen oder zum Spritzen.“, dabei schaute er sich nach allen Seiten nervös um. Mir blieb der Mund offenstehen. Wo war ich hier nur gelandet? Während ich immer noch blöd guckte und nach einer schlagfertigen Antwort suchte, hörte ich Polizeisirenen und Blaulicht zuckte durch die Nacht. Die Straße hinter und vor mir wurde von mehreren Polizeiwagen hermetisch abgeriegelt.

„Scheiß Bullen“ fluchte der Typ und zack weg war er, wie vom Erdboden verschluckt.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Anscheinend sah ich verdächtig aus. So kam es, dass ich zum zweiten Mal an diesem Tag meine Jacke und zusätzlich meine Hosentaschen durchsuchen lassen durfte. Die Beamten fanden eine einzige Deutsche Mark, sonst Garnichts. Enttäuscht ließen sich mich gehen. Ich schlurfte weiter in Richtung Hauptbahnhof. Für mich war ein Wunder geschehen. Ich hatte meine Bahnfahrkarte noch und eine Münze, von der ich bis dahin nichts wusste. Somit konnte ich mir wenigstens am Automaten einen Kaffee für die Heimreise ziehen.

Hauptbahnhof Frankfurt am Main (Foto von Maksym Kaharlytskyi auf Unsplash)

Nichts ahnend, dass mir das Highlight des Abends noch bevorstand, betrat ich das Bahnhofsgebäude. Ich schaute mich suchend um. Wo waren hier die Kaffeeautomaten? Ah, dort. Ich wollte gerade losgehen, als mich ein harmlos wirkender Mann mittleren Alters unvermittelt ansprach. „Kannst Du wechseln?“ In seiner Hand liegen zwei Münzen, Fünfziger. Warum nicht, dachte ich, dem Automaten war es egal, ob eine oder zwei Geldstücke eingeworfen werden. Also gab ich ihm meine letzte Mark. „Vielen Dank“, die Hand schloss sich und der Typ drehte sich um und ging davon. Ich war geschockt und zu keiner Reaktion mehr fähig. Warum musste ausgerechnet mir so etwas passieren?

Als der Zug endlich den Bahnsteig verließ, schwor ich bei allen, was mir lieb und heilig war: In diese Stadt werde ich nie wieder einen Fuß setzen.

Ende Oktober 1990

Titelbild : Foto von Jan-Philipp Thiele auf Unsplash

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

von Maria Becker

Plauderabend

Auf unseren monatlichen Plauderabend freute ich mich diesmal ganz besonders, weil ich auf die Hilfe der anderen Frauen hoffte. Deshalb fiel ich auch gleich mit der Tür ins Haus, bevor irgendein anderes Thema angesprochen wurde.

„Erzählt mir mal ein Highlight aus eurem Leben“, forderte ich die an­deren auf, während ich mal wieder viel zu viel Zucker in meinen Tee rührte.

„Warum?“, fragte Ingrid.

„Ich bin doch in der Schreibgruppe der Volkshochschule“, antwortete ich. „Diesmal sollen wir einen Text zum Stichwort ‚Highlight‘ verfas­sen und da hatte ich die Idee eure Erlebnisse aufzuschreiben.“

Als mein Blick auf Hannelore fiel, die mit traumverlorenem Blick vor sich hinlächelte, dachte ich: Oh nein, bitte erzähl DU nicht von deinen Highlights.

Ich weiß, es ist nicht schön so etwas zu sagen, aber Hannelore ist ein­fach nur trutschig. Sie kleidet sich so bieder wie meine Oma vor fünfzig Jahren, trägt zu Hause tatsächlich eine Kittelschürze und hat sich ihre weißen Haare zu einer blau schimmernden Dauerwelle legen lassen. So, wie es in meiner Kindheit für ältere Frauen Mode war. Keine sechzig­jährige Frau muss im einundzwanzigsten Jahrhundert noch so haus­backen rumlaufen. Ihr Mann Thomas ist genauso bieder wie sie, trägt Cordhosen und Flanellhemden, blüht erst dann so richtig auf, wenn er den letzten erworbenen Gartenzwerg präsentieren und endlos über die Pflege des Staudenselleries reden kann.

Dagegen blüht Hannelore auf, wenn sie endlos über ihre schon längst erwachsenen Kinder reden und die Heiligkeit der Mutterrolle preisen kann. Deshalb wusste ich genau an welches Highlight sie gerade mit seligem Lächeln dachte. Ich wollte aber keinen Text vorlesen, in dem es um Geburtswehen und geplatzte Fruchtblasen ging. Auch wollte ich nicht über Michaels ersten selbständigen Gang zum Töpfchen oder über Susannes ersten Zahn erzählen.

Als ich sah wie Hannelore sich im Sessel zurücklehnte und Luft holte, wusste ich, dass ich jedoch genau dies tun würde, wenn nicht eine von den beiden anderen sofort mit ihrem Highlight um die Ecke kam.

Mein Highlight

Es war zu spät. „Mein Highlight“, sagte Hannelore, während auf ihrem Gesicht immer noch das selige Lächeln lag, „war, als ich mit Günther Sex auf der Autobahnbrücke hatte.“

Mein Gehirn war so sehr auf den ersten Töpfchengang von Michael fixiert, dass ich noch sekundenlang den tatsächlichen Satz nicht reali­sierte, obwohl ich ihn gehört hatte. Den anderen ging es wohl wie mir, auch sie hielten noch eine Weile ihre desinteressierten Mienen bei. Dann machte es Klick und wir drei starrten Hannelore an.

„Du hattest Sex auf der Autobahnbrücke?“, fragte Claudia.

„Ja“, antwortete Hannelore in einem Ton, als wäre Sex auf der Auto­bahnbrücke so selbstverständlich wie der wöchentliche Einkauf.

„Moment mal“, sagte Ingrid. „Sex mit Günther? Ich dachte, dein Thomas wäre dein erster Mann gewesen.“

„War er auch“, sagte Hannelore.

„Du hast nach deiner Hochzeit mit einem anderen Mann geschlafen?“, fragte Claudia fassungslos.

„Ja“, antwortete Hannelore.

„Du hast deinen Mann betrogen?“, fragte Ingrid.

„Nein“, sagte Hannelore.

„Herrgott nochmal“, platzte es aus mir heraus. „Über das dämliche Töpfchen redest du wie ein Wasserfall und bei einer wirklich interes­santen Geschichte lässt du dir jedes Wort aus der Nase ziehen.“

Hannelore schaute mich unter ihren blauen Löckchen waidwund an und ihre Lippen zitterten.

„Tut mir leid“, murmelte ich entschuldigend lächelnd und war erleich­tert als sie zurück lächelte. Hätte ich sie zum Weinen gebracht, würde sie vielleicht nichts mehr erzählen. Aber gerade diesmal wollte ich alles hören.

„Wie kam es zu dem Sex auf der Autobahnbrücke?“, fragte ich in ge­schäftsmäßigem Ton. Schließlich war dies ja eher ein Arbeitsinterview und es wurde Zeit, nicht mehr nur glotzend da zu sitzen, sondern dem Gespräch mal so etwas wie Struktur zu geben.

„Welches Töpfchen?“, fragte Claudia.

„Ist doch egal“, fuhren Ingrid und ich sie an.

„Man wird ja wohl noch fragen dürfen“, sagte Claudia und verschränkte beleidigt die Arme. „Maria hat ja schließlich mit dem Topf ange­fangen.“

„Der ist aber jetzt nicht wichtig“, zischte ich.

Zum Glück fing Hannelore an zu erzählen, so dass Claudia endlich auf­hörte auf dem Töpfchen rum zu hacken.

unbekannte Hilfe

„Das war vor zwei Jahren. Mein Auto sprang nicht an. Und da kam dieser gut aussehende Mann und bot mir seine Hilfe an, konnte aber auch nichts ausrichten. Weil ich nicht genug Geld für ein Taxi dabei hatte, musste ich zu Fuß nach Hause laufen. Der junge Mann hätte mir das Taxi sogar bezahlt, hatte aber auch nicht genügend Geld dabei.“

„Junger Mann?“, unterbrach sie Claudia. „Wie alt war er denn?“

„Ich schätze Ende zwanzig“, antwortete Hannelore.

„Ende zwanzig?“, fragte Ingrid erstaunt. „Vor zwei Jahren? Da warst du achtundfünfzig.“

„Stimmt“, antwortete Hannelore wieder in einem Ton, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Er sah aus wie James Dean.“

Sofort entstand vor meinen Augen ein Bild von Hannelore, wie sie in ihrer Kittelschürze auf der Autobahnbrücke mit James Dean Sex hatte.

Photo by Thomas Griesbeck on Unsplash

„Erzähl weiter“, drängte Claudia.

„Ich sagte zu ihm, dass ich nach Hause laufen würde und er bot mir an mich zu begleiten, damit ich nicht im Dunklen alleine laufen müsse. Er war so ein höflicher junger Mann. Ich meinte, dass wir dann ja den Weg an den Schrebergärten vorbei nehmen könnten. Allein wäre mir der Weg zu einsam.“

„Du bietest einem wildfremden Mann an mit dir im Dunklen durch den Wald und an den Schrebergärten vorbei zu gehen?“, fragte ich erstaunt.

„Na“, sagte Hannelore, „auf der Sutthauser Straße hätte ich es ja nicht um 22.00 Uhr mit ihm treiben wollen.“

„Du wusstest, dass es dazu kommt?“, fragte Claudia.

„Nein“, antwortete Hannelore, „ich wusste nicht dass es dazu kommt. Aber ich wusste, dass ich wollte dass es dazu kommt.“

„Erzähl weiter“, sagte ich matt.

„Ach, da gibt es eigentlich gar nicht viel zu erzählen“, sagte Hannelore munter. „Als wir auf der Fußgängerbrücke über der Autobahn waren habe ich ihn gefragt, ob er es schon mal über einer Autobahn getrieben hat. Er lächelte. Und dann haben wir es einfach getan. Es war himm­lisch.“

„Und dann?“, fragte Claudia.

„Dann sind wir zur Straße zurück gelaufen zum Taxistand.“

„Du hattest also doch genügend Geld“, rief Ingrid.

„Ja, natürlich hatte ich genug Geld. Und wenn nicht, hätte ich den Taxi­fahrer ja auch zu Hause bezahlen können. Aber der junge Mann gefiel mir halt so gut.“

„Und zu Hause?“, fragte ich. „Was hast du da gemacht?“

„Das Essen für Thomas aufgewärmt, er kam ja von seiner Spätschicht“, antwortete Hannelore, wieder ganz Hausfrau.

„Thomas hat nichts gemerkt?“, fragte Claudia.

„Ich habe es ihm erzählt“, sagte Hannelore

„Und wie hat er reagiert?“, fragte ich perplex.

„Wie immer halt. Wir erzählen es uns ja immer wenn wir mit einem anderen geschlafen haben“, antwortete sie.

Eine Weile war es still. Wir alle mussten das erst mal verdauen. Hannelore in ihrer Kittelschürze und Thomas mit seinen Garten­zwergen erzählten sich ihre jeweiligen außerehelichen Sexerlebnisse!?

Hannelore schaute uns an. „Wir finden halt Monogamie langweilig“, sagte sie.

Ingrid fand als erste ihre Sprache wieder. „Ihr erzählt euch davon?“

„Ja, natürlich“, sagte Hannelore.

„Immer?“, fragte Ingrid.

„Ja, immer“, antwortete Hannelore. „Auch, dass er vor drei Jahren mit dir geschlafen hat. Das wolltest du doch wissen, nicht wahr?“

Claudia und mir klappte die Kinnlade runter. Ingrid sprang auf und raffte ihre Sachen zusammen. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie bockig wurde wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte.

„Ein Highlight war dein Thomas nicht“, blaffte sie Hannelore an.

„Das hat er von dir auch gesagt“, lachte Hannelore.

Ingrid stürmte aus der Wohnung und schlug laut die Haustür hinter sich zu.

„Was ist eigentlich dein Highlight?“, fragte Hannelore an mich ge­wandt.

Die Highlights meines Lebens liefen vor meinem inneren Auge ab und ich empfand sie alle einfach nur belanglos, fühlte mich irgendwie so trutschig.

„Wahrscheinlich mein erster Gang zum Töpfchen“, murmelte ich.

© 2020 Maria Becker – Titelbild: Photo by Ilona Frey on Unsplash
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