Es war im Jahre 1989.
Das Volk hatte die Honecker-Regierung hinweggefegt und Hans Modrow wurde als neuer Regierungschef vereidigt. Nachdem die Montagsdemonstranten Ihre Rufe von „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ geändert hatten, konnte man ahnen, wohin die Reise gehen sollte. Für mich war klar, meine Karriere als Offizier bei der NVA war in naher Zukunft beendet. Ich brauchte etwas Neues! Doch welchen Beruf konnte man an der Abendschule in Rostock nach dem Dienst erlernen? Das Einzige, was es damals gab, war eine zweijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Masseur und medizinischen Bademeister.
Wendezeiten
So kam es, dass ich mich mit einem Melker, einer Verkäuferin, einer Näherin und anderen Berufsgruppen aus dem breiten Spektrum der werktätigen Bevölkerung jeden Abend und am Wochenende an der Gesundheitsakademie ausbilden ließ. Mir gefiel diese neue Arbeit. Ich hatte sogar die Möglichkeit, im Medizinischen Punkt meiner Dienststelle mein Praktikum zu absolvieren.
Die ersten Prüfungen waren bestanden, als mich die rasante Entwicklung der Deutschlandpolitik einholte. Am 01. Oktober 1990 quittierte ich meinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee und wurde ehrenhaft in die Reserve und in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ab dem 03. Oktober war ich ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Und nun interessierte sich das Arbeitsamt für meine Person und wollte mich zum Sozialpädagogen oder Umwelt-Ingenieur umschulen lassen. Das hörte sich nicht schlecht an, aber bei der ersten Vorlesung habe ich meine gesamten Vorgesetzten wiedergetroffen und die alten Seilschaften. Das wollte ich dann doch nicht. Ich hatte noch meine laufende, selbstfinanzierte Ausbildung zum Masseur. Darauf konzentrierte ich mich nun.
Dann bot mir das Arbeitsamt eine Umschulung zum Reiseverkehrskaufmann an und drohte mir das Arbeitslosengeld zu streichen, wenn ich wieder ablehnen würde. Mir fehlte nur noch eine letzte praktische Prüfung in zwei Monaten zum Abschluss meiner neuen Laufbahn als Masseur und medizinischer Bademeister.
Die Deutsche Mark hatte die Lebenshaltungskosten explodieren lassen. Die Miete war auf Westniveau angehoben worden. Ich brauchte das Geld! In Rostock wuchsen in dieser Zeit die Reisebüros wie Pilze aus dem Boden. Die ehemaligen DDR-Bürger genossen die Reisefreiheit. Wer brauchte da einen Masseur? Also brach ich die Ausbildung ab und begann die Umschulung zum Reiseverkehrskaufmann.
Der Reiseverkehrskaufmann
Mein Praktikum machte ich bei verschiedenen Busunternehmen in Rostock und bekam so schnell Einblicke in die neue, weite westliche Welt. Und wer hätte das gedacht, Reisen war noch schöner als jeden Tag 20 Personen in einem engen Zimmer zu massieren. Die ganze Welt lag nun vor mir, anstatt fettleibige, verspannte Menschen!
Flugreisen haben mich schon immer interessiert. Deshalb bewarb ich mich nach meinem erfolgreichen Abschluss als Reiseverkehrskaufmann 1992 bei Tukan Reisen. Ich durfte als Büroleiter mit einer Azubine und einer Aushilfskraft das 57. Reisebüro in Rostock eröffnen. Mann war ich stolz!
Nach einem erfolgreichen dreiviertel Jahr in Groß Klein, einem Stadtteil von Rostock, wurde direkt vor unserer Nase eine riesige Baugrube für ein Einkaufscenter ausgebaggert. Von heute auf morgen waren wir von der Außenwelt abgeschnitten und das Büro musste schließen. Da die Lohnzahlung auch ausblieb, entschloss ich mich dieses Mal bei einer namhaften Firma aus den alten Bundesländern zu bewerben.
Rostock – Schwerin
Dem Geschäftsführer des großen Reisebüros am Alten Wall in Hamburg gefiel mein bisheriger Lebenslauf so gut, dass er mir sofort einen Büroleiter Posten in dem neuem First-Reisebüro in der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns anbot. Auch wenn ich täglich fast 4 Stunden auf der Bahn zwischen Rostock und Schwerin zubrachte, habe ich diese Entscheidung nie bereut.
Ich habe in dieser Zeit so viel über das Reisen, über die Reisebüro-Technik und den Verkauf gelernt. Davon profitiere ich noch heute. Und ich war erfolgreich.
Das hat meinen Chef sehr beeindruckt und deshalb hat er mich nach Rostock versetzt, um das dortige Reisebüro auf Vordermann zu bringen. Ich war wieder zurück in meiner Heimatstadt. Das fühlte sich alles richtig und gut an.
Bis ein Jahr später ein Franchisenehmer mit demselben Logo ca. 800 m vor unserem Laden ein weiteres First-Reisebüro aufmachte. Es gab in dieser Zeit dann schon mehr als 80 Reisebüros in Rostock. Das war definitiv zu viel für die 254.000 Einwohner der Stadt. Die Leute dachten, wir wären umgezogen und sind dort hängen geblieben.
Auf mein Drängen wurden die beiden Büros zusammengelegt und ich hatte nun einen neuen Chef. Dieser verstand sein Handwerk nicht und als ich wieder nach Schwerin sollte, habe ich gekündigt.
Diese Entscheidung fiel mir sehr schwer. Auch weil meine neue Arbeitsstelle nun in Berlin war und ich wieder pendeln musste. Ich kam nur am Wochenende nach Hause. Meine Familie hat mich dafür öfter besucht. Dabei ist bei meiner Tochter der Wunsch entstanden, in Berlin zu studieren. Heute lebt sie immer noch dort und hat es nicht bereut.
Mit dem Millennium hatte ich die Chance, nach Rostock zurückzukehren. Das Hapag Lloyd Reisebüro im Herzen der Stadt war nun meine neue Hoffnung für ein Leben und Arbeiten in meiner absoluten Lieblingsstadt, direkt am Meer. Ich nutzte sie. Nun war die Welt für meine Familie und mich wieder in Ordnung. Es ging uns so gut wie nie zuvor.
11.September 2001
Der Anschlag am 11. September 2001 krempelte mein Leben komplett um. Da Fliegen auf einmal gefährlich war, gingen die Flugreisen drastisch zurück. Der Terror und seine Auswirkungen, besser gesagt die Reaktionen darauf veränderten das Reisen bis heute.
Die TUI AG, wozu auch unser Hapag Lloyd Reisebüro gehörte, strich in der Folge 10.000 Stellen und schloss viele Geschäfte. Ich war wieder arbeitslos. Damit hatte ich niemals gerechnet, vor allem weil unser Büro gar nicht geschlossen wurde. Eine Welt brach für mich zusammen. Ein Kollege aus Lübeck mit einer längeren Betriebszugehörigkeit saß nun an meinem Schreibtisch.
Das Arbeitsamt wollte keine Umschulung auf einen anderen Beruf übernehmen, solange es noch offene Stellen für Reiseverkehrskaufleute gab. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich hätte neu lernen sollen. Also schrieb ich in einem Monat knapp hundert Bewerbungen an Reiseveranstalter und Reisebüros in ganz Deutschland. Ich bekam von den meisten keine Antwort oder eine Absage. Es waren zu viele Bewerber auf die wenigen Stellen.
Schubert Reisen GmbH – Osnabrück
Nach den einzigen zwei Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch in Bremen und Osnabrück war für mich schnell klar, Schubert Reisen GmbH ist für mich die Zukunft. Und diese Entscheidung hat mein Leben allumfassend verändert und am nachhaltigsten beeinflusst.
Der kleine, feine Tickethändler für russischsprachige Reisebüros hat mich mit offenen Armen empfangen und mich bei allem unterstützt, was so eine Wochenend-Pendelei mit sich bringt. Die Arbeitskolleginnen stellten meine Ersatzfamilie unter der Woche dar. Dafür mag ich sie immer noch.
Dank Schubert Reisen habe ich meine jetzige Ehefrau kennen und lieben gelernt. Allein darüber könnte ich eine separate Geschichte schreiben.
Im Zug zwischen Rostock und Osnabrück habe ich viel gelesen und angefangen meine ersten Kurzgeschichten zu schreiben. Im Journal Holzhauser Leben wurde ein Beitrag im Herbst 2008 von mir zum ersten Mal veröffentlicht.
Schriftsteller oder Autor?
Schreiben ist inzwischen zu meinem Hobby geworden und mein erstes Buch mit Kurzgeschichten ist in Arbeit. Drei Kinderbücher sind bereits erschienen.
Über Umwege (Weeze und Herford) bei weiteren Arbeitgebern bin ich nun in Osnabrück und wieder bei der TUI angekommen. Gefühlt ging es mir noch nie so gut in meinem Leben. Ich liebe meine Familie. Und ich mag meinen Job als Reiseverkehrskaufmann.
Wer weiß, was das Leben noch mit mir vorhat?
Ob das Schicksal oder mein freier Wille mich irgendwann wieder nach Rostock führen werden?
Juli 2021
Titelfoto: Photo by Vidar Nordli-Mathisen on Unsplash
© 2021 Ingo M. Ebert
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