nach einem MDR-Video
Anfang der Neunzigerjahre geschahen gleich mehrere Wunder in der kleinen und schönsten Stadt Deutschlands. Diesen Titel hat Stolberg zwar erst 2019 verliehen bekommen. Aber der Grundstein dafür wurde unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1990 gelegt. Das Schloss und die Stadt mit den denkmalgeschützten Fachwerkhäusern hatten in den vierzig Jahren Sozialismus mehr gelitten als in den vielen Kriegen davor. Der Luftkurort, tief zwischen den Bergen gelegen, hatte besonders im Winter mit den hunderten Kohleöfen das Atmen unmöglich gemacht. Zusätzlich ließ der Smog die ohnehin wenige Sonne nie ins Tal scheinen. Die Stadt lag schwer atmend im Sterben.
Ausgangslage Anfang der Neunziger
Der Plan des ersten frei gewählten Bürgermeisters war nicht überraschend, aber genial. Kohleöfen sollten aus der Stadt verbannt werden. Mit Kohlen heizen wurde verboten. Dafür sollte mit viel Fördergeld aus Berlin und Brüssel die gesamte Stadt an sauberes Stadtgas angeschlossen werden. Voraussetzung für den Gasanschluss war eine komplette Sanierung des Hauses, denn die Straße sollte nur einmal aufgemacht und alle Versorgungsleitungen wie Gas, Wasser, Abwasser und Strom in einem Rutsch verlegt werden. So kam es, dass von 1990 bis 1994 die Stadt eine riesige Baustelle war und sich die Bevölkerungszahl um 80 % reduzierte. Der Bürgermeister blieb hart und setzte sich trotz vieler Anfeindungen und Proteste der Bürgerschaft durch. Die Folge war ein Boykott. Die Bautätigkeiten wurden nach und nach eingestellt. Wahrscheinlich auch, weil die Finanzen ausgingen. Die Innenstadt schaute aus wie ein Braunkohletagebau, aufgerissen und zerfetzt. Die angelockten Ferienhausinvestoren sahen ihre Gelder, die Thyra hinunterfließen. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt!
Die Idee
Die Bürgermeisterwahl stand vor der Tür und eine Wiederwahl des Amtierenden unwahrscheinlich. Allerdings fanden sich auch keine anderen Kandidaten, die die Großbaustelle übernehmen wollten. Da hatte der Bürgermeister eine Idee. Er schrieb einen Brief an die Queen Elizabeth von England. Ließ dabei nicht unerwähnt, dass die Prinzessin Elisabeth von Stolberg-Roßla, die zweite Frau von Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, Regent des Herzogtums Braunschweig, eine entfernte Verwandte der Königin sei. Das Schloss in Stolberg war im Gegensatz zu den privaten Fachwerkhäusern weiterhin dem Verfall ausgesetzt. Die Treuhand konnte keinen Käufer finden. Nun sollte die englische Krone ins Boot geholt werden. Damit erhoffte er sich den notwendigen Aufschwung für den letzten Bauabschnitt in der Stadt und gleichzeitig neue Investoren für das Schloss, das Freizeitbad und sein heruntergekommenes Rathaus. Die Antwort aus dem Buckingham Palace ließ nicht lange auf sich warten. Der Jubelschrei des Bürgermeisters brach sich im vierfachen Echo und war bis in das kalte Tal zu hören. Jawohl, die Queen höchstpersönlich würde im kommenden Sommer 1995 die Kleinstadt besuchen. Voraussetzung wären aber fertige Fahrbahnen, ein gesichertes Schlossgebäude und ein Eintrag in das Goldene Buch der Stadt.
So geschah es, dass innerhalb nur eines halben Jahres alle Häuser entlang der Hauptstraße erneuert und restauriert wurden, alle Straßen und Gehwege neu mit alten Pflastersteinen, mit Bänken und Bäumen gestaltet wurden, das Schloss des Grafen von Stolberg-Stolberg eingerüstet, das Dach mit Kupfer frisch gedeckt und die Schloss- und Wallanlagen hübsch hergerichtet worden.
Ganz nebenbei wurde auch das Rathaus von außen neuwertig gestrichen und der große Rathaussaal prunkvoll saniert. Die Queen konnte kommen und wurde zur Grundsteinlegung für das Freizeitbad Thyragrotte gleich mit eingeplant.
Die Nachbargemeinden schüttelten nur verwundert mit den Köpfen. Konnte das mit rechten Dingen zugehen?
Das Datum rückte näher und der Bürgermeister wurde von Tag zu Tag unruhiger. Die Arbeiten waren alle fristgemäß fertig geworden und die Stadt glänzte an allen Ecken. Sogar die Gullydeckel mit dem Stolberger Stadtwappen waren rechtzeitig eingetroffen.
Die Queen kommt
Als an einem regnerischen Samstagmorgen die VW-Transporter der MDR auf dem Marktplatz ankamen und die Kamera und die Beleuchtung ausgepackt wurden, wussten alle Beteiligten, jetzt wird es ernst. Die Queen ist auf dem Weg. Eine genaue Zeit hatten niemand genannt bekommen.
Eine halbe Stunde später, es hatte gerade aufgehört zu regnen, rollte ein grau-blauer Rolls-Royce über das nagelneue Pflaster bis direkt vor das Rathaus. Die zufällig anwesenden Passanten wunderten sich schon, dass keine weiteren Begleitfahrzeuge, keine Polizei dabei war. Nur vier große, mit langen schwarzen Mänteln bekleidete Personenschützer sicherten den bemerkenswerten Wagen. Einer öffnete die Tür, der Bürgermeister hastete die Außentreppen am Rathaus herunter, während die Königin würdevoll aus dem Auto stieg. Das Fernsehen war live dabei. Der Bürgermeister schien wahrlich überrascht, man konnte sagen, er war regelrecht in Panik. Die Queen war tatsächlich nach Stolberg gekommen, ein Wunder! Obwohl es gar nicht sein konnte, denn er hatte die schriftliche Absage eigenhändig bekommen und bis zuletzt gebetet, dass der Betrug nicht aufflog.
Was war geschehen? Wie sich später herausstellte, hatte die Sekretärin den Bürgermeister durchschaut und als kleine Lektion den MDR mit ins Boot geholt, um ihn einen kleinen Denkzettel à la Verstehen Sie Spaß zu verpassen. So Schritt ein echtes Queen Elizabeth-Double nun auf die neugierigen Passanten zu und alle spielten mit.
Auch wenn es keinen Eintrag ins Goldene Buch gab, haben sich die Queen und der Bürgermeister von Stolberg ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Der wunderschönen kleinen Stadt am Rande des Südharzes hat es auf jeden Fall gutgetan.
Hinweis: Diese Geschichte ist frei erfunden! Lediglich dieses Video existiert und diente mir als Vorlage für meine Geschichte.
Ich liebe meine Geburtsstadt Stolberg/ Harz und ich hoffe, Ihr besucht dieses wunderschöne Städtchen.
November 2022
Titelfoto: Screenshot aus dem MDR – Video – Verfasser unbekannt
© 2022 Ingo M. Ebert
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