Athanasia – gefährliche Erinnerungen
Ich weiss nicht wann. Aber es war wirklich. Ich saß neben Athanasia Skipe in meinem Zimmer. Es war ziemlich klein. An der Decke war eine schwach leuchtende Lampe. Das Licht schien ihr aufs Gesicht. Sie sah wirklich gut aus. Ich strich ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Sie blickte mir tief in die Augen. Ich sah die goldenen Sprenkel in ihren Augen. Bis vor ein paar Wochen hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was sich hinter dem geheimnisvollen Glitzern verborgen hatte. Doch nun wusste ich es. Athanasia war nicht ein gewöhnlicher Mensch wie ich. Sie hatte unglaubliche Fähigkeiten. Ich selbst hatte es zuerst nicht geglaubt. Sie hatte es mir beweisen müssen, aber jetzt glaubte ich ihr. Sie war unsterblich. Da gab es nur eine Ausnahme, wenn jemand sie töten würde. Ich wusste, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr Vater war. Sie wuchs bei ihrem Stiefvater auf, zusammen mit ihrem Stiefbruder Jeremy. Er hatte seine Mutter verloren, als er noch ein Baby gewesen war. Auch der Freund seiner Mutter war ums Leben gekommen. Und jetzt lebte er bei seinem leiblichen Vater. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Jedenfalls sah sie aus wie jedes normale 15-jährige Mädchen. Zu meinem Erstaunen wandte Athanasia ihren Blick ab und meinte: „Ich muss mit dir reden, Jack.“ „Was ist denn?“, fragte ich sie verwundert. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte: „Dads Befürchtungen sind wahr geworden.“ Ich starrte sie einen Moment überrumpelt an. „Dieser Massenmörder, der Jeremys Eltern umgebracht hat. Er weiß, dass ich Agashas Abkömmling bin. Die Tochter der Dämonin Krankheit und des Verderbens.“ „Aber du lebst nicht mehr in der Hölle“, sagte ich sanft. „Das spielt doch keine Rolle. Er will mich umbringen. Er will der Einzige sein, der ewig leben kann. Denn wer mich umbringt, wird unsterblich“, ihre Augen füllten sich mit goldenen Tränen. Ich nahm sie fest in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. „Aber du bist nicht so wie sie. Du wohnst bei Herrn Skipe. Deine Mutter hat die Macht zu zerstören. Du, die des Heilens.“ „Ich kann nicht bleiben. Dad wird mich verstecken.“ „Wie lange?“, fragte ich. „Lange“ sagte Athanasia knapp. Ich wusste, was das bedeutete. Wenn lange für einen Sterblichen einige Jahre war, wie viele Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte sollten das dann bitte für eine Unsterbliche sein? „Ich liebe dich“, schluchzte Athanasia „aber es muss so sein.“
Vergessen
Ich konnte es nicht glauben. Eigentlich hatte ich es schon immer gewusst. Doch ich wollte es einfach nicht glauben. „Niemand außer Dad und Jeremy werden sich an mich erinnern können. Dazu wird Dad einen speziellen Zauber anwenden. Wenn ich dann aber gleich wiederauftauche, bringt das Ganze nichts.“ Jetzt kullerte auch mir eine Träne über die Wange. Das war so ungerecht. Was sollte ihr Stiefbruder damit, sich an sie zu erinnern. Er mochte sie ja sowieso nicht. Schnell wischte ich sie ab. Mir wurde bewusst, was das hieß. Ich würde mich nicht mehr an Athanasia erinnern können. Aber ich liebte sie doch. Die Vorstellung, sie zu vergessen, tat schrecklich weh. Irgendwo in meiner Brust spürte ich es hoffnungsvoll pochen. Ich liebe sie. Niemand kann mich dazu zwingen, sie zu vergessen, dachte ich. Doch meine Hoffnung war nicht sehr groß. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Herr Skipes Zauber funktionieren würde. Schließlich war er ein Cogitiates, ein menschenähnliches Wesen, dass unter anderem Gedanken lesen und Erinnerungen auslöschen konnte. „Jack“, sagte Athanasia, „bitte versteh das.“ Ich nickte betrübt. „Schau in diesen Spiegel“, sie deutete hinter mich. Und wir drehten uns beide um. Ich sah einen 15-jährigen Jungen mit blondem, fast weißem Haar, hellblauen Augen und einem eher spitzen Kinn, der unglücklich zurück starrte. „Und jetzt schau nur den Spiegel an.“, sagte sie schluchzend. „Ich liebe dich“, sagte sie noch einmal. Ich wollte meinen Blick von dem Spiegel wegreißen, doch ich konnte nicht. Ein letztes Mal sah ich im Spiegel Athanasias braune Augen mit den goldenen Sprenkeln. „Ich dich auch“, meine Stimme war vermutlich nur noch ein Flüstern. Im nächsten Augenblick blickte ich in den Spiegel. Das Einzige, was ich sah, war ein blonder Junge. Dann schüttelte ich verwirrt den Kopf und stand auf. Von diesem Augenblick an waren meine Erinnerungen an Athanasia verschwunden.
„Hey Jack“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah meinen besten Freund Greg an. „Hi“, sagte ich. „Spielen wir zusammen Fußball?“, fragte er. Greg war sehr sportlich. Er liebte Fußball über alles. Und bat mich fast jede Pause in der Schule, ob ich mit ihm trainieren wollte. Ich stimmte zu und wir gingen zum roten Fußballplatz. „Mit Mischel und mir läuft es gerade richtig gut“ erzählte Greg, während dem er mit dem Fußball jonglierte. Ich nickte. Greg hatte jeden Monat eine neue. Er war sehr beliebt. Ich war da eher der Typ, der spitze Bemerkungen um sich warf. Ich wusste, dass das nicht besonders nett war und das nicht zu Beliebtheit führen würde. Aber zu meiner Verteidigung: Mein Leben war ziemlich scheiße. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich Anwalt werde und haben mich auf ein behindertes Internat geschickt. Ich hatte wenige Freunde und war gerade dabei, meine Eltern mit schlechten Schulnoten zu enttäuschen. „Und, wie läuft es mit Noemi?“, fragte Greg belustigt. Er wusste, dass ich nicht gerne darüber sprach. „Ich mag sie.“ Erwiderte ich knapp. Greg kickte mir den Ball zu und ich warf ihn weniger geschickt zurück. Es klingelte viel zu früh. Wir nahmen unsere Schultaschen vom Boden und liefen Richtung Schulhaus. Das Treppenhaus war voll mit Schülerinnen und Schülern. Zielstrebig lief ich nach oben. Greg folgte mir etwas langsamer. Als ich mich ein wenig umblickte, sah ich Jeremy. Hasserfüllt starrte ich ihn an. Ich hatte schon immer eine große Wut gegen ihn. Wieso wusste ich nie genau. Aber sicher auch, weil er berühmt war. Nicht gerade auf der ganzen Welt, aber zumindest in der Umgebung. Ein richtiger Held. Aber nicht für mich. Er war nur deshalb so bekannt, weil seine Familie, als er etwa ein Jahr alt war, von einem Mörder heimgesucht wurde. Er hatte überlebt. Als einziger der Familie. Seine Mutter hatte ihn mit ihrem Leben beschützt. Nach dem Angriff hat man den Mann nie wiedergesehen, der all die schrecklichen Taten begangen hatte. Meine Eltern hatten, so sagte man, dem Mörder geholfen. Ich weiß nicht genau bei was oder ob sie jemanden umgebracht haben, aber ich wusste, dass sie einige Dinge getan hatten, die ich niemals machen würde. Mit hoch erhobenem Kinn stolzierte ich auf ihn zu. „Na tut dir dein hässliches Gesicht noch weh, nachdem du gestern hingefallen bist?“, giftete ich ihn an. Es tat gut, jemanden zu beleidigen. So konnte ich für wenige Sekunden vergessen, wer meine Eltern waren und was sie von mir verlangten zu werden. „Sei ruhig Jack, antwortete Jeremy wütend. „Oh nein, die Legende Jeremy Skipe möchte nicht hässlich sein“, feixte ich weiter. Er wollte auf mich losgehen. Aber sein Kumpel Raffael hielt ihn zurück. „Jeremy und sein armer Freund der bemitleideten Familie Rotschopf.“, mit diesen Worten wandte ich den beiden den Rücken zu und machte mich schnell aus dem Staub. Leider fühlte ich mich kaum besser.
Geheimnisse
Die letzte Stunde vor Schulschluss hatte ich Chemie bei Herrn Skipe. Mein absolutes Lieblingsfach. Nicht dass ich Klassenbester wäre oder so. Obwohl Herr Skipe auch Jeremys Lehrer war, schien er ihn nicht zu mögen. Ich meine, Herr Skipe war sowieso nicht in der Lage, irgendjemanden zu mögen, nachdem seine große Liebe Liljana von dem unbekannten Massenmörder umgebracht worden war. Doch er schien mich viel mehr leiden zu können als seinen eigenen Sohn. Das freute mich immer wieder. „Der Unterricht ist zu Ende“, sagte Herr Skipe. Ich packte meine Tasche und lief die Tür hinaus. Als ich schon fast den Flur entlanggelaufen war, hörte ich Skipe sagen: „Jeremy warte noch kurz.“ Ich ergriff die Gelegenheit. Wenn dieser riesige Rafael nicht bei ihm ist, ist er um einiges schwächer, dachte ich. Also wartete ich hinter der Tür. Da hörte ich, was die beiden besprachen. „Wie geht es Athanasia?“, ich erkannte Jeremys Stimme. „Körperlich gut, geistig schlecht“, antwortete Herr Skipe kalt. „Gewaltigen Liebeskummer“, ergänzte er mehr zu sich selbst. „Was kann sie nur an Jack finden?“, fragte Jeremy aufgebracht. „Er ist der Sohn dieser beiden früheren Anhänger des Massenmörders.“ „Bedenke, dass auch Athanasia von dem Bösen abstammt. Vielleicht findet sie sich von dieser dunklen Seite angezogen.“ „Das gibt keinen Sinn. Sie wird von dieser Seite doch gejagt! Du weißt, dass er wiederaufgetaucht ist. Er wird uns noch alle umbringen.“, entgegnete Jeremy wütend. Ich hörte Schritte. Da mir bewusst war, dass sie über mich geredet hatten, gab ich meinen Posten auf und lief schnell auf das Zimmer. Hastig schloss ich die Tür zu. Greg würde erst später kommen. Dann hatte ich unser Zimmer für etwa noch eine Stunde für mich allein. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. War das wirklich ich gewesen, über den sie gesprochen hatten. Mein Handy klingelte. Ich ging ran. „Noemi?“, fragte ich verwundert. „Hör zu Jack“, fing sie an, „ich weiß ja, dass deine Eltern dir Druck machen und so, aber ich kann so nicht mit dir zusammen sein.“ Ich hatte es schon erwartet. „Aha, und in wen hast du dich verguckt?“, fragte ich und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. „Elia, wir treffen uns heute im Kino und dann …“ Ich schnitt ihr das Wort ab, in dem ich auflegte. Dass sie es wagte, mich anzurufen. So eine Ausnutzerin. Ich war mir sicher: Schlimmer konnte es nicht kommen. Aber so wirklich traurig war ich auch nicht über die Trennung. Richtig verliebt war glaub niemand von uns in den anderen gewesen. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber meine Einstellung gegenüber anderen Menschen war nicht halb so positiv. Deshalb war es schwer, eine Freundin zu finden. Den Rest des Abends kreisten meine Gedanken um das Gespräch zwischen Jeremy und seinem Vater. Doch es ergab keinen Sinn. Konnten sie vielleicht einen anderen Jack gemeint haben. Aber ich war der Einzige auf diesem Internat, der Jack heißt. Zu allem Überfluss kannte ich nicht einmal eine Athanasia. Da war es unwahrscheinlich, dass sie in mich verliebt war. Oder? Irgendwie kam mir der Name so wichtig vor. Ich überlegte so angestrengt nach wie schon lange nicht mehr. Aber ich konnte mich nicht erinnern.
Albtraum
Am nächsten Morgen, einem Samstag, war ich schweißgebadet aufgewacht. Sehr wahrscheinlich ein schrecklicher Albtraum. Aber wie ich mich an den Namen so konnte ich mich auch an den Traum kaum erinnern. Ein Spiegel und goldenen Augen waren im Traum vorgekommen. Mehr wusste ich nicht. Ich ging aufs Jungenklo im ersten Stock, um mich zu duschen. Alle Jungen, die ihr Zimmer auf dieser Etage hatten, teilten sich ein ziemlich großes Bad. Das warme Wasser auf meiner Haut fühlte sich beruhigend und erfrischend an. Ich band mir ein Badetuch um, das mir bis zu den Knien reichte und lies mich zuerst für eine Weile so auf der Bank neben der Dusche nieder. Wieder versuchte ich mich zu erinnern. Athanasia. Ich kannte diesen Namen von irgendwoher. Da war ich mir sicher. Dann zog ich meine Schuluniform an und trat in den größeren Bereich im Bad. Hier gab es einige Waschbecken. Ich blickte in den Spiegel, wie ich es im Traum gemacht hatte. Als hoffte ich Antworten von meinem Spiegelbild zu bekommen. Doch es schwieg. „Athanasia, woher kenne ich diesen Namen?“«, fragte ich mich zum hundertsten Mal. Ich blickte erneut hoch in den Spiegel. Da sah ich ein Spiegelbild. Es war nicht mein Eigenes. Es war eine in Kapuzen gehüllte Gestalt. Der Silhouette zufolge tippte ich auf einen Mann. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte. Ich drehte mich ruckartig um. Doch bevor ich etwas machen konnte, zog der Mann ein langes Messer aus einer seiner Tasche hervor. Ich versuchte nicht zu würgen. Mich überkam Panik. Ich war sowieso nicht gerade der Mutigste dieser Welt. Das ließ mich fast tot umfallen. »Lauf weg! «, befahl ich mir. Doch der Mann war zu schnell. Ohne zu zögern hatte er zugestochen. Mitten in meine Brust. Ich sackte zu Boden. Völlig taub gegen die Welt. „Zeit zu sterben, Jack“, sagte der Mann. Das konnte ich aber nicht mehr genau hören. Alles wurde wie von einem Nebel eingehüllt. «Ich sterbe «, schoss es mir durch den Kopf. Ich wollte schreien, aber meine Kehle brachte nur ein leises Geräusch hervor. Noch einmal stieß der Mann brutal zu. Diesmal tief in meinen Bauch. Ich stöhnte laut auf vor Schmerz. «Eine grausame Weise zu sterben «, dachte ich. Der Mann stampfte davon, schloss die Tür ab und ließ mich am Boden zurück. Arme und Beine in einem unnatürlichen Winkel von mir gestreckt lag ich da. Mein weißes Hemd war blutdurchnässt. Ich hatte keine Ahnung, warum der Mann das getan hatte. Aber das war sowieso nicht wichtig. Denn ich war überzeugt, dass ich nicht mehr lange zu leben hatte.
Nach Luft ringend lag ich auf dem Boden. Unfähig, mich zu bewegen. Jeder Atemzug kostete mich sehr viel Anstrengung. Meine aufgeschlitzte Brust brannte und schmerzte, wie ich es mir nicht einmal in meinen Träumen vorstellen konnte. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Sie schrie erschrocken auf, als sie mich entdeckte und rannte auf mich zu. Schluchzend kniete sie sich neben mich und zerriss schnell mein blutgetränktes Hemd. „Jack“, sagte sie immer wieder. Hoffnung regte sich in mir. Doch ich konnte sie kaum noch wahrnehmen. Das Mädchen war zu spät gekommen, jede Sekunde würde ich sterben. Nachdem sie mir das Hemd aufgerissen hatte, berührte sie mit ihren Fingern meine nackte, verletzte Brust. Zuerst zuckte ich zusammen und stöhnte erneut auf, als mich ein noch schlimmerer Schmerz überkam. Dann fühlte ich, wie der Schmerz nachließ. Als würde meine Wunde geschlossen werden. Ich blickte hoch und sah nur noch zwei mit Tränen überströmte Augen. Braune Augen mit goldenen Sprenkeln und goldenen Tränen. Für einen Moment konnte ich mich wieder an alles erinnern: Die Welt der Fabelwesen und Zauberei, an Athanasia, die Tochter einer Dämonin, die auf der Flucht war vor dem Massenmörder und an den Spiegel in dem ich Athanasia zum letzten Mal gesehen hatte. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Sterben oder Leben
Um mich herum war alles pechschwarz. Stickige Dunkelheit schien mich einzuhüllen. Zuerst dachte ich, dass ich tot bin. Schließlich war ich schwer verletzt worden. Doch dann fühlte ich Wärme. Also konnte ich noch nicht tot sein. Oder? Nein, ich war noch am Leben. Ich hörte Stimmen, aber ich konnte sie nicht erkennen oder verstehen. Ich wusste nicht, wer mit mir sprach Freund oder Feind. Da schaffte ich es endlich die Augen zu öffnen. Athanasias Gesicht nahm langsam Gestalt an. Ich fühlte mich, als ob eine Lawine voller Erinnerungen mich überrollen würde. „Athanasia“ brachte ich hervor. Mein ganzer Oberkörper tat mir weh. Doch es war nicht besonders schmerzhaft. Um das Ganze zu hinterfragen, hatte ich zu wenig Kraft. Ich war einfach nur froh, noch am Leben zu sein. „Jack!“, schrie Athanasia, als sie merkte, dass ich die Augen geöffnet hatte. Vor lauter Aufregung hob sie ihre magischen, heilenden Hände von meiner nackten Brust und ich schrie erschrocken auf. Denn jetzt überkam mich der Schmerz, den ich schon vorher erleidet hätte, hätte Athanasia ihre Kräfte nicht eingesetzt. Es fühlte sich so an, als ob mich jemand durch einen Speer gestoßen hätte. Ich keuchte und versuchte mühsam Luft zubekommen. Meine Brust zitterte und mein ganzer Oberkörper zuckte immer wieder. Ich fing an zu schluchzen. Jetzt bekam ich noch schlechter Luft. Mein Atem ging flach und schnell. Zu schnell. Zum Glück dauerte das ganze nur einige Sekunden, bis Athanasia ihre Hände wieder auf die klaffende Wunde nahe meinem Herz presste. Der Schmerz wurde schlagartig zu einem Unangenehmen ziehen und stechen. Es tat zwar immer noch weh. Aber um Welten weniger als vorher. Keuchend lag ich auf dem Rücken und schaute mich so gut es ging um. Mein Hemd hatte ich nicht mehr an. Doch ich trug immer noch die dunkelgraue Schuljeans und die schwarzen Turnschuhe. Es war ziemlich unbequem. Denn ich lag auf dem harten Boden von Herrn Skipes Schulzimmer, der neben mir stand und mich mit besorgter Miene betrachtete. „Bald wird es dir besser gehen.“, versicherte Athanasia mir. Doch sie klang eher, als wollte sie sich selbst überzeugen. Plötzlich kam Jeremy hereingerannt. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, sagte er völlig außer Atem. „Und er kann sich wirklich an dich erinnern?“ Athanasia nickte. Sie hatte noch immer nicht aufgehört zu weinen. Doch sie tat es lautlos. Ich sah die goldenen Tränen, die ihr über die Wangen kullerten. „Aber wie kann das sein?“, fragte Jeremy seinen Stiefvater. „Ich habe eine Vermutung“, begann Herr Skipe, „als Jack so versessen darauf war zu wissen, wer Athanasia ist, und er sie dann auch noch sah, sind seine Erinnerungen und auch die aller anderen Menschen zurückgekehrt“.
„Du hättest in deinem Versteck bleiben sollen“, sagte Jeremy streng zu Athanasia, „noch mal kann Dad die Erinnerung an dich nicht löschen. So was geht nur einmal.“
„Jeremy, du weißt genau, dass ich es spüre, wenn jemand, den ich kenne, schwer verletzt ist und meine Hilfe braucht. Ich habe die Macht, denen zu helfen. Darum tue ich es.“, verteidigte sich Athanasia. Sie hatte aufgehört zu weinen und tat so, als versuche sie ihre Hände auf die richtige Stelle meiner Verletzungen zu halten. Doch vermutlich wollte sie nur den Blicken der anderen ausweichen. Nun bemerkte ich erst, dass sie sich für mein Leben in große Gefahr begeben hatte. Denn jetzt, da sich der unbekannte Mörder wieder an sie erinnern konnte, wollte er sie töten. Wieso eigentlich? Niemand war sich sicher. Aber vermutlich, weil derjenige, der sie tötete, unsterblich werden würde. Benommen blickte ich zu Jeremy hoch. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er jetzt, da ich so verletzlich war, nach mir geschlagen hätte. Meinem Leben ein Ende bereitet hätte. Doch er tat es nicht. Anstelle dem brüllte er Athanasia an: „Wie konntest du nur! Wie konntest du dein Leben für ihn aufs Spiel setzen. Er ist böse! Was, wenn dich dieser Mörder tatsächlich tötet. Und er unsterblich wird. Er wird die Möglichkeit haben, Jahrhunderte lang zu töten. Wie konntest du ihm helfen! Wie um alles in der Welt konntest du dich überhaupt in ihn verlieben.“ Jetzt wurde Athanasia richtig wütend. Ich merkte, wie sich ihre Finger auf meiner Brust verkrampften. Dann schrie sie: „Jeremy, Du herzloser kalter Stein! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Jack ist kein böser Mensch! Weißt du wieso? Weil er niemals jemanden sterben lassen würde, wenn er es verhindern könnte. Du schon! Du wolltest ihn einfach verbluten lassen! Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ Jeremy hatte es die Sprache verschlagen. Er lief auf die Tür zu und wollte das Zimmer verlassen. Doch er drehte sich noch mal um und blickte zu mir runter. Hilflos, schwach wie ich war, konnte ich nichts anderes als zurückzublicken. „Ich sage dir eines, Jack Midare“, drohte er mir, „wenn sie umgebracht wird, ist das ganz allein deine Schuld!“
Wunder
„So, jetzt sollte es gehen“, verkündete Athanasia. Ein paar Stunden waren vergangen, seitdem ich im Schulzimmer aufgewacht war. Ich konnte wieder ohne Schmerzen reden. Nach wie vor lag ich auf dem Boden. Nun aber auf einigen weichen Kissen. Langsam hob sie ihre Hände von meiner Brust ab. Ich drohte nicht mehr zu verbluten, da die Wunde durch Athanasias Magie einigermaßen geschlossen worden war. Ein leichter Schmerz kam in mir hoch und ich versuchte nicht zusammenzuzucken. „Und jetzt?“, fragte ich, „Was wirst du tun Athanasia?“ „Ich weiß es nicht.“, gestand sie und schaute ihren Vater um Rat bittend an. Doch er sagte nichts. Langsam versuchte ich mich aufzurichten. Nach ein paar Minuten getraute ich mich sogar aufzustehen. Wackelig stand ich auf den Beinen. Erst jetzt merkte ich, wie kalt mir war. Herr Skipe bemerkte es und reichte mir einen frischen, schwarzen Pullover. Schnell zog ich ihn an. „Das sage ich meinem Vater“, sagte ich wütend, „diese Schule sollte geschlossen werden.“ Athanasia sah mich schockiert an. Doch Herr Skipe sagte nur kalt: „Sie sind schon auf dem Weg hierher.“ Wenige Sekunden waren vergangen, als mein Vater in das Zimmer trat. Meine Mutter folgte ihm. Mein Vater hatte seine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mir entging der überraschte Ausdruck auf Athanasias Gesicht nicht. Sicher hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sehr ich meinem Vater glich. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als von meinen Eltern in den Arm genommen zu werden. Doch steinkalt, wie sie waren, tätschelte mir meine Mutter nur die Schulter. Immer noch besser als mein Vater, der sich nicht einmal die Mühe machte, mich anzusehen. Sie wirkten beide sehr betrübt. „Ich bitte um Privatsphäre“, meinte er arrogant. „Wie sie wünschen Herr Midare“, antwortete Herr Skipe. Ich merkte, dass er sich respektlos behandelt fühlte. Nur widerwillig verließen er und Athanasia das Zimmer.
„Oh Gott, was hat er dir nur angetan?“, fragte meine Mutter besorgt. Anstatt zu antworten streifte ich mit meinen Fingern leicht über die Stelle, wo ich wusste, dass sich unter meinem Pulli die Narben befanden. Ich zögerte einen Moment und fragte mich, ob es meine Eltern wirklich interessieren würde. Dann kam mir der Gedanke, dass mein Vater sicher froh sein würde, wenn er einen Grund hätte, sich bei jemandem zu beschweren. Also zog ich meinen Pullover aus und gab den Blick auf die zwei riesigen frischen Narben frei. Als ich sie betrachtete, wurde mir bewusst, wie stark Athanasias Heilkräfte waren. Ohne sie wäre ich schon lange tot. Ich hörte meine Mutter laut schlucken. Doch sie machte sich immer noch keine Anstalt mich in den Arm zunehmen. »Mach dir nur nicht die Mühe, Mom. Schließlich ist dein Sohn gerade beinahe ermordet worden.« Fast hätte ich die Worte laut gesagt, aber ich entschloss meinen Mund zu halten. Bevor ich wieder anfing zu frieren, zog ich mir den Pullover abermals an. Zuerst schwiegen wir alle. Dann sagte meine Mutter etwas, dass mich erstaunen ließ: „Das ist ganz allein unsere Schuld“, erklärte sie. „Jack, bitte verzeih uns. Er hat das getan, um uns zu bestrafen.“ Ich sah sie verwundert an. „Wer?“, fragte ich sie. „Es ist nichts.“, sagte mein Vater mit einem strengen Blick zu meiner Mutter. Entschuldigend senkte sie ihre Augen und starrte auf den Boden. „Was habt ihr damit zu tun?“ fragte ich. Stille. „Nun sagt schon. Ich weiß das ihr etwas wisst. Ich bin nicht blöd.“, forderte ich sie heraus. Ich war überrascht von mir selbst. Normalerweise getraute ich mich nicht mit meinen Eltern so zu reden. Ich hatte immer Angst vor den Konsequenzen gehabt. Doch das war mir in diesem Moment völlig egal. „Du wagst es so mit deinem Vater zu reden“, die Stimme meines Vaters war tief und kalt. „Ich würde nie behaupten, dass du dumm bist, Jack, trotzdem halte ich es nicht für besonders schlau, wenn du dich auf diese Leute einlässt, mein Junge.“
„Diese Leute?“, jetzt war ich so wütend, dass ich die Angst vor meinem Vater verlor, „du meinst Athanasia, du hältst sie für Abschaum, weil sie nicht von Adligen abstammt oder in einem großen Haus wohnt? Athanasia, meine Freundin! Athanasia, die mir das Leben gerettet hat! Ohne sie wäre ich tot Dad! Ich weiß nicht, was ihr mit dem Angriff zutun habt. Ich weiß nur, dass es so ist! Wie kannst du Athanasia nur so hassen. Sie hat einen deiner größten Fehler geradegerückt. Ich wäre tot, wenn sie nicht wäre!“, schrie ich meinen Vater wütend an. Ich blickte ihm tief in die Augen. Es war, als ob ich in meine Eigenen schauen würde. Nur war ich mir sicher, dass ich noch nie so finster und kalt geblickt hatte, wie mein Vater es gerade tat.
Familie
„Du gehst zu weit, mein Sohn“, sagte er. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich getan hatte. Und ich bekam wieder Angst. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Aber jetzt war es zu spät. Mein Vater würde mir nie verzeihen, dass ich zugegeben hatte, dass ich ein Mädchen liebte, das nicht seinen Wünschen entsprach. Schneller als ich reagieren konnte, hob mein Vater seinen Stock und schlug damit auf meine frischen Verletzungen auf meiner Brust. Vor lauter Schmerz schrie ich laut auf. Der Schlag war nicht hart gewesen, aber es hatte schon gereicht. Ich bekam weiche Knie und lehnte mich gegen die Wand. Dann sank ich langsam zu Boden. Ich griff mir unter den Pullover und fühlte warmes Blut. Die Wunde hatte sich geöffnet. Meine Mutter wollte zu mir eilen. Doch bevor sie bei mir war, war Athanasia aufgetaucht. Mit besorgter Miene. Wieder kniete sie sich neben mich und sagte „Ich dachte, es würde genügen.“ Dieses Mal musste sie ihre Hand nur kurz auf die Wunde legen. Bis sie sich wieder schloss. Entschuldigend blickte sie mich an. Ich nahm sie fest in den Arm, wie es meine Schmerzen zuließ. Zu gerne hätte ich sie jetzt geküsst, aber ich wusste das mein Alter ausrasten würde. „Mein Vater,“ erklärte ich ihr so leise, dass es außer uns niemand hören konnte. Dann deutete ich auf meine Brust. Sie verstand, richtete sich auf und drehte sich mit wutverzehrter Miene zu meinem Vater um. Dann deutete sie mit ihrem Finger auf ihn und schrie ihn an: „Sie! Wie können sie etwas so Dummes und Leichtsinniges tun! Jack ist schwer verletzt! Jemand wollte ihn umbringen!“
„Mein Sohn kann auf sich selbst aufpassen! Er braucht deine Hilfe nicht, du verfluchtes Höllenkind!“, mit diesen Worten gingen er und meine Mutter die Tür hinaus. Das Kinn hoch erhoben ließen sie mich zurück. Meine Mutter wirkte traurig. Aber meinen Vater scherte es nicht, dass ich fast gestorben wäre. Bis zum heutigen Tag hatte er es nicht für notwendig gehalten, sich bei mir für den Schlag gegen meine tödlichen Wunden zu entschuldigen.
Wochenende
Es war stockfinster. Langsam richtete ich mich in meinem weichen Bett auf und streckte mich ein wenig. Auf dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers, das eigentlich mir gehörte, schlief Athanasia. Ich saß auf Gregs Bett. Er war über das Wochenende nach Hause gefahren. Musste schön sein, richtige Eltern zu haben. Die ihr Kind liebten. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen. »Sie lieben mich. Nur ist das ihnen halt peinlich «, dachte ich verbittert. Aber wenigstens hatte ich Athanasia zurück. Sie hatte darauf bestanden, in der Nähe zu übernachten, dass sie mir zu Hilfe eilen konnte, sobald sich meine Wunden wieder öffnen würden. Das war nett von ihr, das weiß ich. Trotzdem wollte ich sie beschützen, nicht umgekehrt. Da kam es mir komisch vor, dass sie mir das Leben retten musste. Meine Wunden waren wieder geschlossen. Doch sie könnten bei einem Zusammenstoß jederzeit aufgehen. Währendem saß ich auf dem Bett und überlegte, ich weiß, das ist merkwürdig, ob ich wohl an diesen Verletzungen noch sterben würde und ob mein Vater dann an meinem Grab weinen würde. Vorausgesetzt, mein Vater würde sich überwinden und Geld für die Beerdigung seines Sohnes bezahlen. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klingelte mein Handy. Froh über die Gelegenheit, an etwas anderes denken zu können, stand ich auf und ging zu dem kleinen Schrank, auf dem mein Handy lag und griff danach. Athanasia war aufgewacht. Ihre braunen Haare waren zerzaust und unter ihren Augen konnte ich in dem wenigen Licht, dass von der Nachttischlampe kam, tiefe Augenringe erkennen. Wir setzten uns nebeneinander auf mein Bett, auf dem Athanasia sich aufgerichtet hatte, ich nahm den Anruf an, stellte ihn auf Lautsprecher und lauschte gebannt. Meine Mom rief an. „Jack, Schatz bist du allein?“
Mit zusammengekniffenen Augen sah ich das Handy an. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter irgendetwas gegen Athanasia sagen würde. „Na ja, könnte sie vielleicht“, begann meine Mutter. Ich seufzte entnervt. „Sprich oder ich lege auf.“, meinte ich. „Nein, Jack, es ist wichtig.“, jetzt klang sie verzweifelt. Athanasia runzelte verwirrt die Stirn. „Es stimmt. Wir, ich und dein Vater, wir haben wirklich etwas mit dem Mordversuch an dir zu tun.“, schluchzte sie. Ich hatte es schon gewusst. Doch Athanasia schien überrascht. „Es stimmt, der namenlose Massenmörder ist zurück. Er hat mich und deinen Vater zu sich gerufen. Wir hatten nicht gewusst, dass er das war. Eine ganze Familie hätten wir für ihn auslöschen müssen. Nur weil er Lust hatte. Ich weigerte mich. Und dein Vater stimmte mir dann auch zu. Doch wir konnten nicht einfach gehen. Er schrie uns hinterher, dass er dich töten würde. Ich wollte es verhindern, aber dein Vater meinte, es wäre besser, wenn du sterben würdest als wir alle drei. Dein Vater, er will nicht, dass du es weißt, aber ich kann dir keine Lügen …“, sie konnte nicht mehr weiterreden, weil sie angefangen hatte zu weinen. Mit wutverzerrter Miene starrte ich an die gegenüberliegende Wand. Dann drückte ich den Anruf weg. Von meinen Eltern wollte ich nie mehr etwas hören.
Seit einer Woche habe ich jetzt nichts mehr von meinen Eltern gehört. Das konnte mir nur recht sein.
ein gefährlicher Ausflug
Es war Montagmorgen. Ich wanderte Schulter an Schulter mit Athanasia durch den Wald. Wir gingen mit einigem Abstand hinter den anderen, welche mit auf den Ausflug gekommen waren. Athanasia hatte in den letzten Tagen alles versucht, um mich von dem Streit zwischen mir und meinen Eltern abzulenken. Nach langer Arbeit hatte sie es dann doch geschafft, mich zum Mitkommen zu überreden. Ich war entspannt, wie seit Tagen nicht mehr. Meine Narben waren zwar immer noch zu sehen und Athanasia konnte mich bisher nicht fest umarmen, aber das war auch schon alles, was von dem Mordversuch geblieben war. Wir gingen nah an einer tiefen Schlucht entlang. Ich schielte zum Abgrund hinunter. Da hörte ich ein Rascheln hinter mir im Gebüsch. »Sicher nur ein Tier «, dachte ich. Aber es raschelte erneut. Ängstlich wie ich war, drehte ich mich ruckartig um. Sodass ich Athanasia fasst umgeworfen hätte. Sie war genervt, doch ich hatte Recht gehabt. Irgendjemand folgte uns. „Wer ist da?“, fragte ich hitzig. Athanasia grub ihre Fingernägel tief in meinen Oberarm, was ziemlich schmerzhaft war. Ich blickte sie an und wollte fluchen. Aber da sah ich ihn. Den Mann, der mich fast getötet hätte. Hilfesuchend schaute ich mich in alle Richtungen um. Aber ich konnte die anderen nirgends entdecken. Verzweifelt schrie ich um Hilfe.
Der Mann kam näher. Sein Gesicht konnte ich kaum erkennen. In der Hand trug er ein Messer. Mir wurde speiübel. „Jack „, piepste Athanasia neben mir. Schützend stellte ich mich vor sie und war sofort verblüfft über mein kleines bisschen Mut. „Deine Eltern hätten mir dienen müssen. Sie wären mächtig geworden. Du wärst mächtig geworden.“, sagte der Mann. Ich schluckte. Athanasia stolperte in ihrer Aufregung über eine Baumwurzel, fiel auf den Boden und kroch nun keuchend auf ihren Hinterteil rückwärts vom Mann weg, bis sie einen Baumstamm erreichte und zitternd verharrte. Der furchteinflößende Mann versuchte mich mit seinem Messer zu verletzen. Zuerst konnte ich ausweichen. Doch dann gelang es ihm. Ich hatte nicht richtig aufgepasst. Der Mann hatte es bemerkt und die Situation ausgenutzt. Unter gruseligem Gelächter stach er sein Messer in meinen Oberschenkel. »Verdammt, mit was habe ich das verdient «, dachte ich. Mein Gesicht war schmerzverzerrt und ich schrie verzweifelt auf. Plötzlich schoss Athanasia hinter mir hervor und verlieh dem abgelenkten Mann einen heftigen Stoß. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wedelte mit dem Armen und versuchten das Gleichgewicht zu finden. Mit seinen Schuhen hatte er die Kante zum Abgrund leicht übertreten. Als ihm bewusstwurde, dass er stürzen würde, griff er verzweifelt nach mir, da ich inzwischen mühsam auf die Beine gekommen war. Ich strauchelte eine Sekunde lang. Dann rutschte der Mann ab und ich wurde von ihm mitgerissen. Und ich fiel. Immer tiefer. Und tiefer.
Voller Angst wurde mir klar, was passiert war. Der Mann hatte mich nun losgelassen. Ich versuchte mich auf den Aufprall vorzubereiten. Doch, bevor es soweit kam, packte mich etwas an meiner Schulter, krallte sich meinen Pullover und hielt mich fest. Ich dachte, es wäre ein verdorrter Zweig, der an der Felswand wächst, aber dann wäre er doch gebrochen und ich wäre wieder gefallen. Ich sah, wie der Mann unter mir weiter in die Tiefe stürzte. Bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er war tot. Nun sah ich mich nach meinem Retter um. Es war Athanasia. Aber wie konnte das sein? Von dem Klippenrand hätte sie mich unmöglich halten können. Dafür war ich schon zu weit gefallen. Athanasia schwebte. Staunend blickte ich sie an. Da stand sie. In der Luft. Unter ihr nur ein leichter Schimmer Licht, hielt sie mich mit einem Arm mühelos fest. Ihre Fähigkeiten hatten mich wieder einmal überrascht. Nun zog sie mich problemlos hoch neben sich. „Solange du dich an mir festhältst, wirst du nicht fallen“, erklärte sie. Ich hielt ihren Arm, währenddem wir gemeinsam über einen unsichtbaren Boden liefen. Die Hand hatte sie kurz auf meinen Oberschenkel gepresst, der schlagartig heilte. Bei jedem ihrer Schritte erschien unter uns ein leuchtendes, durchsichtiges Stück Fläche. Wir blickten uns tief in die Augen, dann küsste ich sie und mir wurde bewusst, dass sie mir das Leben gerettet hatte. Schon wieder. Ich spürte ihre Lippen auf meinen und dachte: »Etwas Gutes gibt es an dem Ganzen. Mein Leben kann nur noch besser werden. «
Verfasser: auf Wunsch anonym
Titelbild: Foto von Amin Hasani auf Unsplash
© 2020 Ingo M. Ebert
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