Das blaue Auge
Wie ein blaues Auge meine Abiturnoten verbesserte
Dank meiner engagierten Mutter und meines Berufswunsches konnte ich mein Abitur in der Klosterschule Rossleben machen. Das war für mich keine Selbstverständlichkeit, denn die Erweiterte Oberschule, J.W. Goethe, war eine elitäre Internatsschule in der DDR. Meine Mutter war nur eine einfache Erzieherin und mein Vater Kraftfahrer. Doch fand sie die richtigen Worte, um die Schulbehörde des Kreises zu überzeugen. Ich sage nur: die Führungsrolle des Proletariats! So zog ich mit vierzehn Lebensjahren in das Schulinternat nach Rossleben, zusammen mit vier weiteren Jungen meines Alters in einem Zimmer. Es waren die vier schönsten, aufregendsten und intensivsten Jahre meiner Jugend.
Das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung, das durch ein riesiges Kalibergwerk geprägt wurde, war distanziert. Man ging sich aus dem Weg. Wir waren die zukünftige Intelligenz unseres Landes und entsprechend hochnäsig. Berührungen mit den Bauern- und Schachtarbeiter- Kindern gab es nur bei Kino, Schwimmbad oder Disco-Besuchen. Kleine Reibereien blieben nicht aus. Aber es gab auch positive Ausnahmen, wie z. B. die Tanzstunden mit den gleichaltrigen Dorfschönheiten.
Es war im letzten halben Jahr meiner Schulzeit. Die Abitur-Prüfungen hatten noch nicht begonnen. Im Rahmen unserer schulischen Ausbildung durften wir einmal in der Woche mit der Schachtbahn zum Kalibergwerk fahren. Dort bekamen wir praktischen Unterricht, in dem wir in der laufenden Produktion irgendwelche Hilfsarbeiten machen durften. Für uns war es eine Abwechslung vom Schulalltag und vor allem vom drögen Internatsessen. Die Kantine im Schacht war für uns ein 5-Sterne-Restaurant. Eine riesige Auswahl und die Preise waren staatlich subventioniert, sodass wir hier mit unserem kleinen Taschengeld fürstlich speisen konnten.
Eines Tages fuhren wir wieder einmal hoch zum Kalibergwerk. Es thronte wie eine mächtige Burg über dem Dorf. Zusammen mit den Schülern nutzten auch die Lehrlinge und Arbeiter des Schachtes diese Bahn. Ein Junge aus dem Dorf ärgerte unsere Mädels. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, was es war. Jedenfalls war es ausreichend, dass ich mich schützend vor die Mädchen stellte und dem frechen Kerl einen leichten Faustschlag ins Gesicht verpasste. Nun war er wütend und wollte mich mit gesengtem Kopf zu Boden stoßen. Ich wich schnell aus und verpasste ihm dabei einen sehenswerten Aufwärtshaken. Meine Boxausbildung hatte sich gelohnt. Das setzte ihn außer Gefecht. Nun war Ruhe im Zug.
Diese Geschichte sprach sich natürlich schnell rum. Ein Freund kam später zu mir, er hatte früher in Rossleben gewohnt. Er erzählte mir, dass ich dem jüngsten Spross, einer als streitsüchtig bekannten Sippe, ein wunderschönes blaues Auge verpasst hatte. Alle seine sieben älteren Brüder hätten bereits Haftstrafen hinter sich wegen Körperverletzungen und Messerstechereien und warteten sicher nun auf mich, um es mir heimzuzahlen. Ich sollte mich vorsichtshalber mindestens das nächste halbe Jahr nicht mehr im Dorf blicken lassen. Mit sieben Halunken auf einmal wollte ich mich nicht schlagen, somit beherzigte ich den gut gemeinten Rat und hielt mich ab sofort nur noch auf dem Schulgelände auf. Doch da waren die Freizeitaktivitäten sehr beschränkt. Also nutzte ich die Zeit, um mich intensiv auf mein Abitur vorzubereiten. Ich gebe zu, ich hätte schon gern was anderes getan, z. B. ins Schwimmbad oder ins Kino gehen. Aber die Aussicht auf ein schmerzhaftes Ende danach, ließ mich dann doch zurückschrecken. Also las ich weiter fleißig meine Bücher. Die Abiturprüfungen waren auf einmal gar nicht so schlimm. Und wenn ich meine mündliche Musikprüfung nicht grandios vergeigt hätte, wäre mein Zensurendurchschnitt von 1,8 noch besser gewesen.
Das halbe Jahr war endlich rum und zur Feier des Tages und der bestandenen Prüfungen ging ich, wenn auch mit etwas mulmigem Gefühl, zur Dorfdisco. Und Ihr ahnt es schon, wer fing mich noch an der Eingangstür ab? Zwei der Brüder, mit doppelt so breiten Schultern und zwei Köpfe größer als ich.
„Bist Du der Typ, der unserem kleinen Bruder ein Veilchen verpasst hat?“ lautete die unmissverständliche Frage. Leugnen und/oder Flucht waren unmöglich. Sie musterten mich streng von oben bis unten. Was blieb mir anderes übrig?
Ich streckte mich, so hoch ich konnte. Holte tief Luft und stieß hervor: „Ja, das war ich!“ Da grinsten Beide über das ganze Gesicht, einer schlug mir mit seiner Pranke auf die Schulter und sagte: „Das war richtig gut, hat der freche Rotzlöffel mal eine Lektion bekommen. Komm, wir geben Dir ein Bier aus.“ Meine Erleichterung könnt Ihr Euch vorstellen. Und das Beste, seit diesem Abend waren alle anderen streitsüchtigen Dorfburschen auf einmal sehr freundlich zu mir. Wie man sich so in den Menschen irren kann?
Ingo Ebert VHS Schreibwerkstatt Dezember 2019 (Reizwort Auge)
Titelfoto: Black eye © MarkFGD – www.fotolia.de
© 2020 Ingo M. Ebert
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