Mauerfall auf Waschbärisch

Leseprobe aus: Der Archivar

von Mila Bagrat

EINE GESCHICHTE ZUM VORLESEN UND NACHDENKEN

Der kleine Waschbär drehte sich um und schaute, wie der Grenzübergang langsam in der Ferne verschwand, bis der Bus um die Ecke abgebogen war.

„Die menschliche Geschichte ist schon eine verrückte Sache. Aber eins sage ich dir, Freya, Mauern sind schrecklich. Jede Mauer ist der Anfang von einem Käfig. Man denkt, man könnte damit einige Probleme lösen, aber die richtigen Schwierigkeiten, die fangen erst damit an. Weißt du, bei uns in Alberta, das ist meine Heimatprovinz in Kanada, da gab es eine tolle Wiese nicht weit von dem Wald, wo ich mit meiner Familie lebte…“, seine Augen bekamen einen ganz besonderen warmen Glanz, man sah, wie die Erinnerungen in ihm aufkamen.

Kanada


„Und durch diese Wiese verlief ein kleines Flüsschen, na ja, eher ein Bach. An einer Stelle zwischen zwei Felsen gab es besonders viele Flusskrebse. Wir Waschbären, können super fischen, alles, was uns in die Pfoten kommt – Frösche, kleine Fische oder eben Flusskrebse. Und das tun wir wirklich gern. Aber eines Tages kam ein Bauer und baute auf der Wiese sein Haus. Ich nahm es ganz gelassen, es störte mich nicht, die Wiese war groß genug für uns alle. Aber der Bauer, der war offensichtlich einer anderen Meinung, denn kaum hatten wir uns an sein Haus gewöhnt, hatte er mir nichts, dir nichts die ganze Wiese mit einem Zaun umzäunt! Ab da war ich natürlich gezwungen, über diesen blöden Zaun zu klettern, jedes Mal, wenn ich am Bach fischen wollte. Aber das hatte dem Bauern wieder nicht gefallen. Er spitze die Zaunpfähle oben so scharf an, dass ich mich beim Rüberklettern blutig kratzte. Also, hatte ich ein Loch unter dem Zaun gegraben und gelangte auf diese Weise zum Bach. Aber auch das gefiel dem Bauern nicht, er schüttete meine Löcher regelmäßig zu, mehr noch – er füllte sie mit Glassplittern und scharfen Scherben auf, so dass ich mir beim Graben die Pfoten zerschnitt.“

Freya schaute Björn betroffen und erschrocken zugleich an. Beim Sprechen betrachtete der kleine Waschbär seine Handflächen, als würden ihm die dünnen Narben auf den schwarzen Handballen ihre Geschichte erzählen.

„Ab da wurde es ernst. Richtig ernst. Langsam kochte in mir Wut auf. Von der einen Seite war es mir bewusst, dass ich mich da mit dem gefährlichsten Raubtier der Welt anlege – mit einem Menschen! Mannomann, dabei mag ich Flusskrebse nicht einmal! Ich bin eher ein Süßschnabel, aber verdammt noch einmal! An diesem Bach hatten mein Vater, mein Opa, mein Uropa gefischt und kein Zaun der Welt wird mich daran hindern können, das auch zu tun, verstehst du? Es ging doch schon längst nicht mehr um die Flusskrebse, es ging um Prinzipien! Dieser dämliche Bauer hatte die Situation gewaltig unterschätzt. Genau hier trat die Weisheit Nummer was weiß ich in Kraft: „Leg dich nie mit einem Waschbären an! Also nahm ich mir das Haupttor vor. Der Riegel war echt ein Witz, zumindest für diese zwei Prachtpfoten!“

Er hielt Freya seine kleinen schwarzen Pfötchen wie zur Begutachtung hin und sie nickte bestätigend. „Der Bauer wurde rasend vor Wut, als er das mit dem Tor gecheckt hatte. Er befestigte sogar noch ein zusätzliches Schloss, aber ich sage dir – wer so geschickte Hände wie ich hat, braucht keinen Schlüssel, um überall reinzukommen. Irgendwann wurde es dem Bauern klar und er hielt jede Nacht höchstpersönlich die Wache vor dem Tor. Aber nicht allein, nein, er hatte zwei üble Hunde dabei und seine Schrotflinte. Eines Nachts hatte er mich fast erwischt. Die Ladung ging knapp an meinem Kopf vorbei und versengte mir das Fell – hier und hier“.

Freya schlug entsetzt die Hände vor den Mund und sah sich die Stellen an, die Björn ihr zeigte. „Der Bauer wollte sich vor mir schützen, dabei hatte ich ihn erst gar nicht bedroht. Er hatte sich selber hinter seinem Zaun eingesperrt, dabei hatte er mich ausgegrenzt und mir ein Stück meiner Freiheit genommen – ein schönes sonniges Stück Wiese mit einem Bach und Flusskrebsen drin. Er dachte, er kann mich mit seinem blöden Zaun umerziehen, mich zwingen, aufzugeben, schön brav in meinem Wald zu bleiben. Er dachte, er kann mich an die Leine legen, so wie er das mit seinen dämlichen Kötern gemacht hatte. Aber nicht mit mir!“

aber nicht mit mir

Björns Augen glänzten. Er presste seine rechte Faust auf die weiße flauschige Brust. „Niemand legt einen freien Waschbären an die Leine! Niemand! Schon bald musste auch der Bauer das lernen. Ich blieb bis zur Dämmerung in der Nähe seines Tores und als die Arbeiter von dem Feld mit dem Heuwagen kamen, kletterte ich hinten in den Wagen hinein und versteckte mich im Stroh. Auf diese Art und Weise wurde ich fürstlich in das verbotene Reich eingefahren. Was soll ich sagen? In dieser Nacht stand Rache auf meinem Speiseplan! Ich trank die Eier in dem Hühnerstall aus, ich brach in der Speisekammer ein und knabberte Schinken und Würste, Käse und Brot an, ich zerriss die Mehlsäcke und trank Sahne aus Krügen, ich öffnete sogar ein paar Fässer Bier, nicht dass es mir schmeckte, aber es schäumte so lustig auf dem Boden. Ich sage dir, ich hinterließ ein Bild der Verwüstung, als wäre dort eine Heuschreckenplage ausgebrochen.“

„Oh, nein…“, flüsterte Freya entsetzt. „Aber jetzt hast du ihn erst recht wütend gemacht. Dafür würde er dich töten!“

Björn lächelte beruhigend und fuhr mit der schwarzen Pfote durch das kurze Kopffell. „Immer mit der Ruhe, Kleines! Ich würde ja sonst kaum hier sitzen können, oder? Nein, der Bauer war doch schlauer, als ich es zuerst dachte. Denn bereits am nächsten Morgen hatte er…“

„Alle seine Freunde gerufen, um mit Gewehren und Jagdhunden den Wald abzusuchen?“, beendete Freya finster den Satz.

„Nein“, Björn schüttelte lächelnd den Kopf. „Er hatte…“

„Den Wald angezündet, um dich auszuräuchern?“ Wieder ein Kopfschütteln.

„Überall Giftköder und Fallen gestellt?“

„Nein, nein, nein. Nichts dergleichen!“, Björn hielt eine kurze spannende Pause, schaute ihr direkt in die Augen und sagte: „Er hatte das Tor offen gelassen.“

„Wie bitte?!“ Freya saß mit offenem Mund da und starrte Björn verständnislos an.

So einfach

„So einfach. Seit dem Tag ließ er das Tor offen. Ich meine nicht sperrangeloffen, aber nur so angelehnt. Und ich ging jeden Tag vorbei und schaute, ob das Tor immer noch unverschlossen war. Aber es blieb dabei. Und ich setzte nie mehr meine Pfote auf diese Wiese und fischte auch nie mehr dort, aber letztendlich ging es mir nicht um die Krebse, mir ging es darum, dass ich es jeder Zeit machen könnte, wenn ich es wollte.“

„Wow“, hauchte Freya zutiefst beeindruckt. „Das nenne ich eine Geschichte…“

„Jawohl“, nickte Björn ernsthaft. „Du fragst dich sicher, warum ich sie dir erzählt habe? Denkst du, die Menschen waren damals mit dieser Mauer einverstanden? Die quer durch das ganze Land verlief? Oh, nein! Es wurden unterirdische Tunnel gegraben, um unter der Mauer durchzukommen, es wurden Heißluftballons und Segelgleiter gebaut, um drüber zu fliegen, es wurden Flöße, Schlauchboote und Luftmatratzen eingesetzt, um drüber zu schwimmen! Auch hier direkt am CheckPoint Charlie hatte man versucht mit einem LKW die Absperrungen zu durchbrechen, mit Erfolg, wohl bemerkt. In einem sind wir uns alle ähnlich – wir lassen uns nicht gern einsperren. Und du, Freya, musst dir eins merken – lass dir nie deine Freiheit nehmen! Das ist das Kostbarste, was man haben kann. Erlaube es niemandem, vor dir neue Mauern zu errichten, weder räumlich, noch hier“, er klopfte mit der kleinen Tatze auf sein eckiges Köpfchen.

August 2021

Titelbild: Foto by Mila Bagrat (privat)

© 2021 Mila Bagrat
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