– alle Jahre wieder
Wenn die ersten Discounter die Stollen, Lebkuchen und Co. aufbauen, haben wir meistens noch Temperaturen um die 30 Grad. Aber alle sollen wissen, dass die Weihnachtszeit als nächster großer Höhepunkt vor der Tür steht.
Spätestens aber, wenn die Schaufenster-Puppen sich in roten Dessous lasziv in den Kaufhäusern rekeln, ist es soweit. Die Vorweihnachtszeit hat begonnen!
Zur selben Zeit eröffnen die Weihnachtsmärkte ihre Tore. Was früher ein spezieller Markt war, um die winterlichen Besonderheiten an Mann und Frau zu bringen, ist heute ein großer Jahrmarkt mit glühweinseligen Familienvätern im Kreis der Kollegen, Single-Gänseschwärme mit blinkenden Weihnachtsmützen, überteuerte Bratwürstchen und heiß angepriesene lauwarme Getränke an jedem Stand. Musikalisch umrahmt wird das ganze Chaos mit einem Mix aus Weihnachtsliedern und Hütten-Gaudi.
Doch ist es wirklich so? Wie sieht es aus im Norden Deutschlands? Ich scheue weder Kosten noch Mühen, um einen objektiven Überblick zu erhalten und teste die auf jedem Weihnachtsmarkt typischen Spezialitäten und Glühweine ohne Rücksicht auf Gesundheit und Geldbeutel.
Hier ist mein Bericht.
Hannover
In der Hauptstadt der Niedersachsen fallen einem sofort die angenehme und weihnachtliche Beleuchtung des Weihnachtsmarktes in der Altstadt auf. An rund 120 festlich geschmückten Ständen werden Christbaumschmuck unter anderem aus dem Erzgebirge und dem Thüringer Wald, Holzspielsachen, kunstgewerbliche Artikel, Keramik und Haushaltswaren angeboten. Vor Ort zeigen sogar Glasbläser, Töpfer und Kerzenmacher ihr handwerkliches Geschick. Für Kinder gibt es auf dem Weihnachtsmarkt ein abwechslungsreiches Angebot. Es reicht vom Puppenspieler, Glasmalerei über eine Märchenerzählerin bis zu Kinderkarussell und Riesenrad.
Hansestadt Rostock
Währenddessen eröffnet pünktlich zum 1. Advent, wie jedes Jahr der „echte“ Weihnachtsmann zusammen mit der Märchentante und seinen vielen Gehilfen aus dem Märchenwald den größten Weihnachtsmarkt im Norden. Mit über 300 Schaustellern und Hütten verteilt sich dieser im Zentrum von Rostock über eine etwa 3,2 km lange Bummelmeile – vom Neuen Markt bis zur Fischerbastion. Auf dem Parkplatz Fischerbastion nahe dem Stadthafen, wo die großen Fahrattraktionen wie Überschlagschaukel, hauptsächlich Kinder und Jugendliche anziehen, drängeln sich skandinavische Busgruppen durch die einheimische Menge in Richtung Innenstadt. Diese erkennt man an der Schlagseite. Daher kommt wohl der ungläubig hervorgebrachte Ausruf: „Aaalter Schwede“.
Hier ist es richtig voll! Dafür ist die Auswahl an Getränken beachtlich. Heidelbeer- oder Holunder/Schlehe – Glühwein sowie für die Autofahrer und Anti-Alkoholiker mehrere heiße Säfte wie Kirsch-, Holunder- und Sanddornsaft können käuflich erworben werden. Die Preise liegen zwischen 2,- und 3,- € pro Becher plus Becherpfand.
Ein Weihnachtsmarktbesuch ohne die Original Rostocker Rauchwurst oder ein Stück Räucherfisch frisch aus dem Räucherschrank ist undenkbar.
Die Rostocker Rauchwurst gibt es nur hier. Diese Spezialität schmeckt perfekt zu einem Rostocker Pils. Für jeden Rostocker ist es eine heilige Pflicht, die heißgeräucherte Wurst mit einem eiskalten halben Liter in einem Schluck runter zu spülen. Dafür trainieren die Einheimischen das ganze Jahr über. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich schwöre!
Der Norden ruft
Seit einigen Jahren gibt es eine Finnland-Hütte am Universitätsplatz. Die jungen netten Frauen fallen vor allem durch ihre rote, farbenprächtig verzierte Tracht auf. Hier gibt es keinen Glühwein! Dafür einen „Trollentrunk“ (heißer Preiselbeersaft + Rum), einen finnischen Weihnachtspunsch mit Nüssen und Rosinen aus eigener Herstellung oder das „Nordlicht“, eine heiße Schokolade mit Finnlandia-Wodka! Dazu passt ein Elchburger.
Ja, genau, es ist ein Burger mit echtem Elchfleisch. Schmeckt hervorragend. Ich nehme den Trollentrunk dazu, mit einem doppelten Rum.
Das Nachbarland Schweden hat hier auch eine ständige Vertretung. Es gibt „Wikinger“ (Glögg + Rum), „Blonden Schweden“ (Glögg + Wodka) und den leckeren Glögg (pur) mit Broby-Pepparkakor.
Die Hütte ist immer belagert, wie bei den Wikingern so üblich. Wie ein echter Nordmann kämpfe ich mich vor zum Brett und um einen „Blonden Schweden“ zu killen. Anschließend verbrüdere ich mich mit den Schweden und nehme an der Wikinger-Weihe teil. Glögg mit viel Rum besiegelt die Freundschaft.
Nordeuropa kann so schön sein! Mann, gehts mir gut!!
Es kommt auf einmal eine steife Brise auf und lässt den Boulevard schwanken! Doch ich lasse mich davon nicht beirren und strebe unaufhaltsam, mir den Weg durch Menschenwogen bannend, dem Neuen Markt zu.
Das Riesenrad lass ich unter diesen Bedingungen lieber links liegen und stelle mich beim Hütt´n Gaudi unter. Lecker, herb und fruchtig genieße ich den heißen Glühwein im Gespräch mit dem netten Wirt, welcher sich gern auf einen Small Talk mit den Gästen einlässt! Wer lieber schweigend sein Heißgetränk trinken möchte, kann durch eine Scheibe das angrenzende Spiegellabyrinth beobachten, wo sich einige angetrunkene Weihnachtsmarkt-Besucher gerade die Stirn lädieren oder im beheizten Außenbereich die „Autoschlange“ eines Kinderkarussells bewundern. Da die Kinderautos gerade im Stau stehen, beschließe ich noch den Heidelbeerglühwein zu probieren.
Ob und wie er geschmeckt hat, erschließt sich meinem Erinnerungsvermögen nicht mehr. Ich kann mich nur an die besorgten Gesichter der Mitreisenden in der Straßenbahn nach Hause erinnern! Ich sah wohl nicht gut aus, denke ich! Na ja, was tut man nicht alles als Glühwein-Tester zum Wohle der Menschheit!
Kaum ist der Rausch verflogen, erinnere ich mich wieder an meine heilige Pflicht! Der Glühwein in Hamburg und Osnabrück wartet auf mich. Bei dem Gedanken stieg mir der vertraute süße aromatische Duft bereits zu Kopfe.
Hansestadt Hamburg
Hamburg ist sehr groß und man findet verschiedene Weihnachtsmärkte in der Stadt. Aber es gibt nur einen „Santa Pauli“ auf dem Spielbudenplatz. Auf Deutschlands berühmtester Vergnügungsmeile direkt neben dem Eingang zum Udo Jürgens Musical ist dieser kleine Markt etwas ganz Besonderes.
Seit 2006 befindet er sich zwischen den zwei Showbühnen und bietet statt handgestrickter Socken alles rund um die schönste Nebensache der Welt. Ob Intimschmuck, Verhüterlis, handgedrechselte Holzdildos (Holdis) oder Vibratoren in allen Varianten und Größen kann hier jeder ein ausgefallenes Geschenk erstehen.
Waldmichl & Co
Ich kann mich zwischen den Bio – Holzvibratoren „Waldmichl“, „Fuchsschwanz“ oder „Bärenzunge“ nicht entscheiden. Welcher sieht unter dem Weihnachtsbaum mit einer roten Schleife besser aus? Ich kaufe dann doch keinen und hole mir lieber noch einen Glühwein mit Schuss.
Wie jedermann weiß: Zu jedem guten Trunk sollte man ordentlich essen! Deshalb wende ich mich gleich an den nächsten Stand mit verschiedenen Würsten auf dem Bratrost! Am Grill sind ein dicker Opa und seine Mutter (oder war es seine Frau?) mächtig am Schwitzen. Eine junge hübsche Kundin beschwert sich gerade, dass auf den Werbeschildern am runden Hüttendach fünf verschiedene Würste stehen, aber nur drei auf dem Grillrost liegen! Dabei hat sie sogar noch ein Schild übersehen! Ich schau mir die sechs Werbeschilder genauer an: Krakauer, Bratwurst, Currywurst, Bratwurst, Krakauer, Currywurst. Stimmt, macht exakt fünf oder vielmehr sechs Würste! Ich kläre das Missverständnis auf. Alle Beteiligten finden es urkomisch. Ich bestelle eine Bratwurst. Sie ist kalt und schmeckt mir nicht. Da hört bei mir der Spaß auf.
Danach besuche ich den Stand des FC St. Pauli. Dort gibt es neben diversen Fanartikeln wie Flaggen, T-Shirts, Wollmützen und Weihnachtsbaumkugeln auch Glühwein. Genauso wie die derzeitige Spielstärke des Vereins, schmeckt der Glühwein zweitklassig und im Tabellenmittelfeld! Leider!
Ü-18 Tannenwald
Das absolute Highlight ist aber der nicht jugendfreie Ü-18 Tannenwald, welcher vom Kiez-Original Inkasso-Henry bewacht wird. Der lässt sich nicht lange Bitten und nimmt einem erst mal 2.50 € Eintritt ab, inklusive Verzehrbon von 2,- €.
Dafür wird in dem Zelt heftig eingeheizt! Kein Wunder, es sollen sich ja auch die spärlich bekleideten Stripperinnen und Stripper nicht erkälten!
Dem Besucher wird ein außergewöhnliches Programm geboten: eine Stripteaseshow im Stil der 50 er Jahre. Kein billiges Rumzappeln, sondern künstlerische Entblätterungszeremonien kann ein Jeder bewundern. Das spricht auch viele der anwesenden weiblichen Besucher an. Mir wird nicht nur vom Glühwein heiß. Wer sich allerdings mal eben draußen abkühlen will oder ein WC aufsuchen muss, darf sich ein zweites Mal von Henry abkassieren lassen. Für den erhaltenen Verzehrbon hole ich mir ein weiteres kühles Bier von der Kiez – Brauerei Astra! Prost! Zisch!
Wer noch nicht genug gesehen oder getrunken hat, kann ein paar Seitenstraßen weiter bis zum frühen Morgen durchmachen.
Osnabrück
Ganz anders ist Osnabrück! Was hier auffällt, sind die liebevoll geschmückten und beleuchteten Geschäfte auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt, welcher am Domplatz beginnt und sich bis zum historischen Rathausplatz erstreckt. Klein, aber fein ist der weihnachtliche Markt, wenn man sich die Menschenmassen mal wegdenkt. Nicht ohne Grund wurde der Osnabrücker Weihnachtsmarkt vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) zum schönsten Weihnachtsmarkt im Norden gekürt.
Der Vorteil von vier Reihen Wartender am Stand Weinkrüger ist, man kann in Ruhe die Angebote studieren und sich die Bemerkungen der bereits Glühwein-Trinkenden anhören und /oder visuellen und körperlichen Kontakt zu den zahlreichen Frauengruppen aufnehmen. Der Nachteil ist: Der Glühwein ist durch das ständige erneute Auffüllen nie richtig heiß und man bekommt von dem lauwarmen und viel zu süßen Getränk sofort Sodbrennen!
Wer es in dem Gedränge schafft, kann ein Erinnerungsfoto von der “Größten Weihnachtsspieldose der Welt“ (sechs Meter hoch) oder dem „Größten und schwersten Nussknacker der Welt“ machen. Er ist 6,10 m hoch, wiegt 8,5 t, hat einen Umfang von ca.6, 50 m und soll in sechs Monaten aus einem Stück geschnitzt worden sein und sogar funktionieren! Die Nüsse will ich danach mal sehen!
Was mir in Osnabrück als weiteres Kuriosum auffällt: Hier stehen die Raucher in der Hütte und die Nichtraucher draußen! Scheint aber, bei diesem Massenauflauf das Vernünftigste und Sicherste für alle Beteiligten zu sein.
Ab 19:00 Uhr verdrängen die Vereins- und Firmen- Gruppen die Familien vom Platz. Es wird lauter und man glaubt es kaum: noch voller!
Ich komme nun nicht mehr aus der Glühwein- Bude raus und bin gezwungen auszuharren. Einige Stunden später nutze ich den Aufbruch eines Kegelvereins und schließe mich an. In einer Riesen- Polonaise ohne Möglichkeit auszuscheren, gelange ich zum anderen Ende vom Domplatz.
Osnabrücker Innovation
Genau hier befindet sich eine Bude vom Förderverein der Wirtschaftsjunioren OS e.V. Da an dieser Stelle die einzige Möglichkeit ist anzuhalten, beschließe ich, die Wirtschaft in Osnabrück zu fördern und ordere einen Glühwein mit Schuss! Der freundliche junge Mann empfiehlt noch zu warten, da der Glühwein zurzeit kalt sei! Ich habe aber Durst, keine Zeit und bin gewillt, meinen Beitrag für den wirtschaftlichen Aufschwung sofort zu leisten!! Und wie es sich für einen Förderverein gehört, wurde ein Kompromiss gefunden: ½ Becher Rum mit kaltem Glühwein aufgefüllt für einen einzigen Euro ohne Pfand! Nach mir schlagen gleicherweise drei Jugendliche zu und lassen sicherheitshalber den Glühwein weg! Man soll ja nicht so viel durcheinandertrinken! Ich bin begeistert, wenn das keine Osnabrücker Innovation ist? Wo bekommt man heute noch einen Becher (0,2 l) voll 40 % Rum für einen Euro??
Zum Nachspülen begebe ich mich auf den Rathausplatz zum Historischen Weihnachtsmarkt. Geradezu, genau mitten im Weg, strategisch günstig gelegen, steht die Feuerzangenbowle – Hütte neben einer riesigen Pyramide, welche mit mannshohen Figuren jeden zum unfreiwilligen Stopp zwingen. Ich lasse mich nicht lange nötigen und kaufe einen Becher mit einer Wartezeit von nur 10 Minuten. Erstaunlich schnell, bei dem Gedränge. Es schmeckt mir erfreulich gut, nicht zu süß, würzig und mit hohem Alkoholgehalt. Vorsicht Suchtgefahr!
Nach dem Besuch des Budenzaubers auf dem Heger Tor mit viel frischer Luft und Platz, lasse ich den Abend in der Lagerhalle beim „Arschkalten Wintergrillen“ mit fetziger Livemusik von der Kult- Sofaband und einem eiskalten Bier ausklingen. Was für ein feiner Tag und morgen kann ich endlich ausschlafen.
Fazit: Rostock hat nicht nur den größten Weihnachtsmarkt mit Rummel, sondern auch die umfangreichste Auswahl und den leckersten Glühwein. Santa Pauli kann mit aufregender Exklusivität und Originalität überzeugen und Osnabrück ist der historisch schönste und überfüllte Weihnachtsmarkt im Norden. Hannover ist genau der Richtige für Familien.
Dezember 2008
Titelbild: Photo by Roman Kraft on Unsplash
© 2020 Ingo M. Ebert
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