Das kleine Sandkorn

Es war einmal ein kleines Sandkörnchen. Es lebte in einem tiefen, tiefen Ozean. Dort war es kalt und dunkel. Kein Sonnenstrahl drang bis nach unten zum Meeresboden, so tief war es da. Ab und zu verirrte sich eine Tiefseekreatur in diese karge Gegend. Verschwand aber schnell wieder, da an jener Stelle nichts war außer Sand und Wasser. Was für ein trauriger Ort für ein Sandkorn mitten im Indischen Ozean.

Das kleine Sandkörnchen lag also mit den anderen Sandkörnern im Dunkeln und wartete. Ab und zu knirschte eines davon unmerklich, die absolute Stille kurz unterbrechend. Dann seufzte unser kleines Sandkorn leise. Schaute sich traurig um, stieß einen weiteren Seufzer aus und schloss wieder die Augen, um weiter vor sich hinzudämmern. Es träumte davon, eines Tages von hier wegzukommen. Egal wohin, denn überall war es schöner und angenehmer als in dieser kalten, tiefen See. Aber es erschien unmöglich. Das kleine Sandkörnchen wartete auf ein Wunder!

Der Sturm

Eine lange Zeit verging und nichts passierte. Das kleine Sandkörnchen hatte alle Hoffnungen bereits aufgegeben, als ein riesiges Unwetter über das Meer streifte. Es war der größte Zyklon aller Zeiten. Er wütete eine ganze Woche lang über dem Meer und quirlte das Wasser mächtig durcheinander. Starke Strömungen gelangten bis zum Grund und wirbelten die seit Tausenden von Jahren so da liegenden Sandkörner auf. Erst hatte das kleine Sandkorn furchtbare Angst, aber dann gefiel ihm die immer weiter zunehmende Geschwindigkeit des Wassers. Das Wirbeln und das Rauschen, das Auf und Ab, wie in einem Karussell. Das kleine Sandkörnchen jauchzte vor lauter Freude. Es war ein riesiges Chaos. Das Sandkorn merkte gar nicht, wie es immer weiter nach oben in Richtung der Küste getrieben wurde.

Illustration: Der Sturm von Andrea Schramek , Wien

Der Sturm legte sich. Das kleine Sandkörnchen war verwundert. Es war gar nicht mehr kalt und ein paar helle warme Strahlen kitzelten ihm den Bauch. Erstaunt schaute sich das Sandkörnchen um. Es lag mit vielen anderen Geschwistern in einer flachen Bucht mit himmelblauem Wasser. Vereinzelt lagen grün bewachsene Steine herum. Viele unbekannte bunte Fische flitzten vergnügt hin und her. „Das muss das Paradies sein“, dachte sich das kleine Sandkörnchen und rekelte sich in dem warmen Wasser. Nun seufzte es wieder. Es war ein befriedigendes Seufzen.

Doch die Idylle wurde jäh unterbrochen. Laute Geräusche kamen bedrohlich näher.

Eine gewaltige Kraft packte plötzlich das kleine Sandkörnchen. Ehe es laut aufschreien konnte, rutschte es durch einen großen Tunnel gesaugt und landete auf einem langen, flachen Boot. Es kamen immer mehr Sandkörner hinzu und unser kleines Sandkörnchen wurde von vielen Tausend anderen Sandkörnern zugedeckt. Es war wieder dunkel, nichts mehr zu sehen. Unser kleines Sandkörnchen bekam Panik. Was passierte denn nun schon wieder?

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde es zurück in die Helligkeit geschleudert. Das krachmachende Ungeheuer verschwand in der Ferne. Das kleine Sandkörnchen fand sich in ruhigem, aber undurchsichtigem Wasser wieder. Es ließ sich einfach treiben, von einer Unterwasserströmung erfasst. So begann eine weitere abenteuerliche Reise durch das unendliche Meer.

Die Reise

Zum Glück war es hier nicht mehr dunkel. Das Wasser hatte eine angenehme Temperatur. Das winzige Sandkörnchen genoss die Reise. Was es hier alles zu entdecken gab! Viele unbekannte Tiere, kleine und große, kreuzten den Weg. Steile, dunkelschwarze Unterwassergebirge tauchten auf und verschwanden wieder in der Tiefe. Irgendwann wurde die Strömung schwächer und unser kleines Sandkörnchen sackte nach unten. Es landete mitten auf einer riesigen hellgelben Koralle. Links und rechts waren noch mehr davon in verschiedenen Farben. Wie ein großer bunter Teppich sah das aus. Hier gefiel es ihm gut, denn es gab noch mehr zu entdecken. Kleine und große, silbrige und grellbunte Fische in allen erdenklichen Formen flitzten im klaren Wasser hin und her.

Illustration: Der Clownfisch und das Sandkörnchen von Andrea Schramek, Wien

Ein kleiner, frecher, orange-weiß gestreifter Clownfisch huschte vorbei und wedelte das kleine Sandkörnchen von seiner großartigen Aussichtsplattform herunter. Es fiel direkt in die Spalte zwischen zwei Muschelhälften. In dem schleimigen Fleisch blieb es sofort kleben und kam nicht mehr los.

„Na toll“, dachte sich das kleine Sandkörnchen, „jetzt ist meine Reise wirklich zu Ende.“ Aber es war ja gar nicht weiter schlimm. Es hatte viel gesehen, mehr als es sich je erträumte. Also richtete sich das kleine Sandkörnchen gemütlich ein. Merkte dabei gar nicht, wie es immer mehr von einer herrlichen Glasur überzogen wurde. Es folgten im Laufe der Jahre viele weitere Schichten feinsten Perlmutts, Hülle für Hülle.

Das Wunder

Eines Tages wurde unser kleines Sandkörnchen aus seinen Träumereien der letzten großen Reise gerissen.

Irgendwer befreite das verwandelte Sandkorn aus dem kalten Gefängnis. Reinigte die kleine Kugel vorsichtig im klaren Wasser und legte sie in die warme Sonne. Das Sandkörnchen konnte nichts sehen, spürte aber die Sonnenwärme und hörte die fremden Geräusche um sich herum. Nun war unser kleines Sandkörnchen neugierig und versuchte das Gehörte zu verstehen, was nicht gelang. Es klang alles so fremdartig. Dennoch war zu spüren, dass keine Gefahr drohte.

Illustration: Die Perle von Andrea Schramek, Wien

Später konnte das eingeschlossene Sandkörnchen die Worte zu deuten. Seine Verwandlung in eine vollkommene und bezaubernde weiße Perle war etwas Besonderes, dass die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog.

Die wunderschöne Kostbarkeit wurde mit Gold verziert und zu einem außergewöhnlichen Kettenanhänger verarbeitet. Als es die Wärme der Sonne von oben und die Wärme des Körpers von unten spürte, da geschah ein kleines Wunder.

Das kleine Sandkorn leuchtete von innen heraus und die warmen Strahlen der Perle verbreiteten Frieden und Glück in der ganzen Welt.

VHS Schreibwerkstatt Oktober 2019 (Reizwort Perle)

Titelbild: Die Bucht von Andrea Schramek, Wien

© 2020 Ingo M. Ebert
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autoren wiedergegeben werden.

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