Das alte Gasthaus am Meer
Unser Urlaub in Nordportugal war lange geplant. Unser Hotel in der Nähe von Porto, direkt am Atlantik, mit Bedacht gewählt. So konnte man den Abend mit einem Spaziergang am Meer entspannt beenden. Selbstverständlich gehörte ein Ausflug nach Braga, die Wiege Portugals, dazu.
Da wir am Sonntag gern etwas länger schlafen, auch im Urlaub, kamen wir erst gegen Mittag zu unserem Ausflug los. Die Stadt mit den Höhepunkten Bom Jesus do Monte und der Kathedrale von Braga waren sehenswert und man merkte an der geringen Anzahl an Touristen, dass die Nachsaison begonnen hatte. Man konnte beim entspannten Stadtbummel die schönen Häuser mit den bunten Fliesen an den Außenwänden ohne störende Menschenmassen fotografieren.
Die Sonne schien, der wolkenlose Himmel war strahlend blau und so beschlossen wir, die Rückfahrt von Braga nicht über die Autobahn zu nehmen, sondern entlang der wilden Atlantikküste zu fahren. Das erforderte etwas mehr Aufmerksamkeit und Zeit, aber die immer wieder großartigen Ausblicke auf einsame Buchten, steile Küsten und das wilde Meer entschädigten reichlich. Zum Sonnenuntergang stoppten wir und hörten deutlich das Zischen, als die blutrote Sonne im Ozean verschwand.
Wir fuhren weiter und so gegen acht Uhr war es schlagartig dunkel. Tiefhängende Nebelschwaden zogen vom Meer herüber. Wir kamen nun langsamer voran. Da wir das Hotel wohl nicht vor 22 Uhr erreichen würden, beschlossen wir, bei der nächsten Gelegenheit anzuhalten, denn wir hatten seit Mittag nichts mehr gegessen. Man muss wissen, in Portugal schließen die Küchen pünktlich um 22 Uhr.
Zwischen zwei kleinen Dörfern auf der Küstenstraße zwischen Vila do Conde und Facho entdeckte ich in der Dunkelheit ein schwaches Licht zwischen den Häusern. Als wir näherkamen, entpuppte es sich als ein erleuchtetes Fenster. Im Scheinwerferlicht war das typische flache Steinhaus dieser Gegend gut zu sehen. Es handelte sich um ein Gasthaus mit angrenzenden Wohnteil. Wir hielten auf dem kleinen Parkplatz an. Kein Auto war weit und breit zu sehen. Wir waren anscheinend die einzigen Gäste. Ich dachte: „Ob die hier was zu essen haben?“ Ein Blick durch die mit Kerzen beleuchteten Fenster, ließ einen gemütlichen Gastraum erkennen. Schlicht und sauber eingerichtet, behaglich und einladend zu gleich.
Die schwere Holztür knarrte etwas, ließ sich aber leicht öffnen. Drinnen standen sechs alte, wuchtige Eichentische mit je vier groben Stühlen mit Lehnen aus handgegerbtem Leder. Wir setzten uns ans Fenster, mit dem Blick zum Meer, auch wenn in der Dunkelheit nichts zu erkennen war. Ich schaute mich um. Die grobverputzten Steinwände waren weiß getüncht. Der Raum war spärlich eingerichtet und schwach beleuchtet. Ein großer, dunkler Schrank mit Gläsern und Flaschen, ein altes Regal mit Keramik und einer Grünpflanze darauf. Auf einmal bemerkte ich den alten Mann. Er stand in seinem schwarzen Anzug, mit weißem Hemd und dunklen Schlips, in der Ecke, nahe dem Tresen. Nun kam er freundlich lächelnd auf uns zu und begrüßte uns auf Portugiesisch: „Boa Noite.“
Er beherrschte kein Englisch, kein Französisch und kein Deutsch. Aber Menü verstand er dann und zeigte, immer noch lächelnd auf eine große Schiefertafel an der Wand. Dort standen, fein säuberlich mit Kreide und in schwungvollen Buchstaben, vermutlich fünf Gerichte geschrieben. Natürlich auf Portugiesisch! Das Handy hatte kein Netz und der Reiseführer lag im Hotel. Was soll´s, dachte ich, Fisch oder Fleisch, war mir egal. Ich hatte jetzt richtig Hunger. Wer weiß, ob wir woanders noch etwas zu essen bekommen würden. Ich entschied für uns: Gericht Nummer zwei und drei. Innerlich betend, dass etwas für meine Frau dabei war, denn sie ist beim Essen eher wählerisch. Die Preise standen nicht dabei, aber es war mir in diesem Moment auch egal. Wir hatten Bargeld und zur Not auch die Kreditkarte dabei.
Die Bestellung der Getränke gestaltete sich weitaus schwieriger. Cola, Fanta, Sprite verstand er nicht. Bier gab es nicht, nur „Vinho“! Aber ich musste noch fahren. Sehr zum Unmut meiner Frau, bestellte ich einen „Vinho branco“.
Anders als wir es aus Deutschland kennen, wo die Weinflasche mit diversen Etiketten beklebt ist, stand auf dieser Flasche nur ein Name drauf. Nichts weiter – keine Inhaltsstoffe, kein Herkunftsort, nichts dergleichen. Aber immerhin gab es einen echten Korken! Der Kellner versicherte mir, dass wäre die beste Wahl! Ich glaubte es zumindest bzw. hatte ich seine Gesten so interpretiert. Der Wein war ausgezeichnet!
Unaufgefordert wurde uns dann noch eine nicht etikettierte Flasche mit einer klaren Flüssigkeit gebracht. Ich opferte mich und nahm einen großen Schluck. Es war zum Glück stilles Wasser. Dazu kamen noch drei Schälchen mit Kräuterbutter, Oliven und Dip sowie frisch gebackene Brötchen. Der alte Kellner warnte uns noch mit: „Vorsicht heiß!“, aber das war nicht notwendig, denn man konnte es sehen und riechen. Oh, wie war das köstlich! Im Hause selbst war es richtig still, keine Musik, keine Geräusche aus der Küche, einfach nichts! Draußen war bisher auch noch kein anderes Auto vorbeigefahren. Ein bisschen unheimlich war das schon. Aber unsicher fühlten wir uns nicht, eher wie zu Besuch bei Opa und Oma. Die alte Dame war sicher am Kochen. Wie schon gesagt, hören konnte man nichts davon.
Nach einer halben Stunde kam das Essen. Meine Frau bekam einen frisch gegrillten Fisch, mit Gemüse und Kartoffeln. Auf meinem Teller lag ein rundes, mit Schinken umwickeltes Etwas, dass mit rotem Paprika und einer Art Grützwurst verziert war. Dazu gab es Rosmarinkartoffeln und einen einfachen Salat. Das „Etwas“ entpuppte sich dann als Fisch, was eine Gräte zwischen den Zähnen bewies, obwohl es wie helles Fleisch aussah und schmeckte. Wahrscheinlich ein Filet eines Haies oder einem anderen großen Wassertier.
Es schmeckte alles vorzüglich! Ich trank sogar zwei Gläser des leckeren Weines. Der Kellner stand die ganze Zeit still in seiner Ecke und beobachtete uns. Die Köchin blieb weiterhin unsichtbar. Ob das Essen vergiftet war? Nonsens! Irgendwo musste er ja hinschauen, außer uns war niemand hier. Nach dem Essen tat die unheimliche Stille richtig weh in den Ohren. Ich scharrte mit den Füßen auf den Holzbohlen, um ein Geräusch zu hören. Der Kellner erschien lautlos aus dem Nichts. Ob alles in Ordnung sei und wir noch etwas wünschten, deutete ich seine leisen Worte. Nein, Danke, faz favor, a conta. Die Rechnung bitte, das hatte ich auf Portugiesisch auswendig gelernt. Der Alte brachte ein Holzkästchen, in der sich ein handgeschriebener Zettel befand. Die Zahlen darauf erstaunten mich: weniger als 30 Taler waren zu berappen. Einen Zwanziger und einen Zehner hatten wir. Der alte Kellner schaute sich die Scheine lange und verwundert an, steckte sie dann aber ein und verschwand, „Obrigado“ sagend, im hinteren Teil des Hauses. Jetzt waren wir ganz allein! Man konnte das Knistern der Kerzen hören. Mit einem lauten „OK!“ in den Raum hinein, standen wir auf, schauten uns noch einmal um, jedes Detail der Räumlichkeit aufnehmend. Schnell zwei Fotos mit dem Handy geschossen und wir gingen nach draußen.
Inzwischen hatte sich der Nebel verzogen und der Erdtrabant war über den Bergen aufgegangen. Es war ein abnehmender Mond, aber immer noch sehr voll. Das fahle Licht erleuchtete unseren schwarzen Mietwagen auf dem Parkplatz. Es war so still, man konnte das Rauschen des Meeres hören. Mit einem leichten Kribbeln im Nacken gingen wir, ohne uns umzusehen, zum Auto. Als der Motor ansprang, das Licht der Scheinwerfer aufleuchtete, entspannten wir uns wieder und fuhren langsam los. Das eben war zwar skurril, aber dennoch cool: Das leckere Essen, der geringe Preis, die authentische Atmosphäre des Gasthauses, mit dem höflichen, stillen alten Kellner. Das wäre doch ein echter Geheimtipp für einen Reiseführer?
Ein halbes Jahr später, der Alltag hatte uns schon wieder voll im Griff, erhielt ich eine Antwort des Verlages. Der Inhalt ließ uns erstaunen! Man hatte unseren Geheimtipp vor Ort überprüft. Auf der Straße von Vila do Conde nach Facho gäbe es nur ein einziges Haus an der Küste, die auf meine Beschreibung passen würde. Allerdings wäre der Bau halb verfallen. Die Anordnung der Räume ließe eine alte Gastwirtschaft vermuten, das müsse aber schon mehr als 100 Jahre her sein. Man hätte sogar eine halb volle Weinflasche in den Trümmerhaufen gefunden. Ob nicht ein Irrtum oder eine Verwechslung der Orte vorliegen würde? Verständnislos schaute ich mir die unscharfen Fotos in meinem Handy an. Wir waren da. Da sind wir uns bis heute zu 100% sicher! Wie war das nur möglich?
Ingo Ebert – VHS – Schreibkurs im September 2019 – Thema: Mond
Titelbild: Foto (privat)
© 2020 Ingo M. Ebert
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